Ruben Zimmermann
Kompendium der Gleichnisse Jesu
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2007
1120 Seiten
ISBN 978-3-579-08020-8
In zwei Dingen sind sich Bibelwissenschaftler heute einig: 1. Gleichnisse waren ein wichtiges Kommunikationsmittel Jesu; 2. Gleichnisse sind nicht auf ihre ursprüngliche Bedeutung beschränkt. Letzteres gilt zwar für alle Texte der Vergangenheit, für Gleichnisse aber in besonderer Weise.
In dem zu besprechenden Band wird dieser Mehrdeutigkeit unter anderem dadurch Rechnung getragen, dass jedem Gleichnis neben dem „klassischen“ Titel auch ein sog. „Kreativtitel“ beigelegt wird. Wir lesen also nicht nur „Vom Sauerteig“, sondern dasselbe Gleichnis trägt auch die Überschrift „Gott knetet nicht“; nicht nur „Der verlorene Sohn“, sondern auch „Dabeisein ist alles“; nicht nur „Hausbau auf Felsen oder Sand“, sondern auch „’Einstürzende Neubauten’“. Anliegen dieses Bandes ist es, alle Jesusgleichnisse des Urchristentums zu sammeln, zu übersetzen und zu kommentieren. Bei der Auslegung werden Einsichten der neueren Gleichnisforschung aufgenommen und weiter geführt. 45 Autor/-innen (meist Exeget/-innen der jüngeren Generation) haben 104 Gleichnisse Jesu unter sich aufgeteilt und in gegenseitigem Austausch bearbeitet. Als Zielgruppen richtet sich das Kompendium „an Theolog(inn)en in Wissenschaft und Kirche ebenso wie an Historiker(inn) en, Literatur- und Kulturwissenschaftler(inn)en, aber auch über das akademische und christliche Publikum hinaus an alle interessierten Menschen“ (2). Hier wird nicht zuviel versprochen. In der Tat sind die Auslegungen so gehalten, dass eine sehr gemischte Leserschaft sich angesprochen fühlen kann. In der Aufzählung fehlt allerdings eine Gruppe: Der Band eignet sich ausgesprochen gut auch für Religionslehrerinnen und Religionslehrer, die im Unterricht Gleichnisse besprechen. Dem eigentlichen Auslegungsteil ist eine Einführung von Ruben Zimmermann vorangestellt (3-45), die einen ausgezeichneten Überblick zur Gleichnisforschung seit Jülicher bietet und daraus hermeneutische und methodische Folgerungen zieht. Gegenüber der früher verbreiteten Rückfrage nach den authentischen Gleichnissen des historischen Jesus formuliert Zimmermann Skepsis. Der historischdiachrone Aspekt wird zwar nicht völlig aufgegeben, aber doch begrenzt: Gleichnisse sind „Medien der Jesuserinnerung“ (4) und spiegeln als historische Zeugnisse die reale Lebenswelt Jesu und des Urchristentums, aber Vor- und Urstufen sind nicht zu rekonstruieren. Deshalb wurde bei der Auswahl der Gleichnisse auch nicht geprüft, ob sie auf Jesus zurückgehen, sondern alle Gleichnistexte, die im NT oder in anderen urchristlichen Quellen Jesus zugeschrieben werden, sind berücksichtigt. Dahinter steht auch eine theologische Überlegung: „Dass man sich an Jesus als denjenigen erinnerte, der bildhaft in Gleichnissen von Gott sprach, konvergiert mit dem christologischen Bekenntnis, dass Christus selbst das ‚Bild Gottes’ (2Kor 4,4; Kol 1,15) ist, der den Vater sichtbar macht (Joh 1,18; 14,7). Der Gleichniserzähler ist selbst das ‚Gleichnis Gottes’ (...)“ (5). Beim Rückblick auf die Forschungsgeschichte unterscheidet Zimmermann drei Perspektiven auf die Gleichnisse, die in verschiedenen Phasen dominant waren: historisch-diachrone (Jülicher, Dodd, Jeremias), literarische (Funk, Via) und hermeneutische bzw. leserorientierte Zugänge (Fuchs, Arens, Kähler). Sein eigenes Modell versteht er als integrativ, d.h. er versucht, sowohl die historischen Hintergründe wie die sprachliche Gestalt und die Verständnisschwierigkeiten und –möglichkeiten einzubeziehen. Deshalb folgen die einzelnen Auslegungen immer folgendem Muster: „(1) Titel, (2) Übersetzung, (3) Sprachlichnarrative Analyse (Bildlichkeit), (4) Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich), (5) Analyse des Bedeutungshintergrunds (Bildfeldtradition), (6) Zusammenfassende Auslegung (Deutungshorizonte), (7) Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte, (8) Literatur zum Weiterlesen“ (33). Der 6. Schritt in dieser Abfolge, die eigentliche Auslegung, will bewusst keine abschließende und zwingende Interpretation vornehmen, sondern „mögliche Verstehenswege“ (42) zeigen. Es gibt keine Eindeutigkeit, sondern eine Polyvalenz der Texte, die allerdings auf einen durch historische und sprachliche Überlegungen definierten Spielraum beschränkt ist. Die Anordnung der Texte orientiert sich nicht an einer Zuweisung zu Untergattungen. Die Unterscheidung zwischen Gleichnissen im engeren Sinn, Parabeln und Beispielerzählungen wird grundsätzlich in Frage gestellt. Eigentlich könne man nur eine einzige Gattung bestimmen, die man am besten als „Parabel“ bezeichne. Deshalb folgt die Anordnung in diesem Band einfach den Quellen, die in eine zeitliche Abfolge gebracht werden: Am Anfang stehen die Gleichnisse aus Q, es folgen die Texte aus Mk, Mt, Lk und Joh; schließlich werden auch Gleichnisse des Thomasevangeliums und der Agrapha geboten. Diese Öffnung zur nach-neutestamentlichen Literatur macht einen der Reize des Kompendiums aus. Wir lesen z.B. ein Doppelwort aus dem Thomasevangelium: „Spaltet ein Holz; ich bin dort. Hebt den Stein auf und ihr werdet mich dort finden“ (EvThom 77,2f); oder wir stoßen auf folgendes Agraphon: „Jesus hat gesagt: Diese Welt ist wie eine Brücke. Geht wie Wanderer über sie hinweg. Hängt nicht an ihr wie Leute, die auf ihr wohnen“ (Agr 207). Diese weniger bekannten Gleichnisse sind ohne Frage faszinierend. Eine ungleich größere Leistung des Bandes besteht aber darin, dass auch alt bekannte Gleichnistexte in einem neuen Licht erscheinen. Dafür werden gerade Religionslehrerinnen und Religionslehrer dankbar sein.
Thomas Schmeller
Quelle: Eulenfisch Literatur 1 (2008), Heft 1, S. 6f. [Literaturbeilage von Eulenfisch. Limburger Magazin für Religion und Bildung]