Gerhard Neuweiler
Und wir sind es doch - die Krone der Evolution
(Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek 77)
Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 2008
254 Seiten
ISBN 978-3-8031-5177-3
Gerhard Neuweiler, 2008 verstorbener Tierphysiologe mit dem Schwerpunkt Neurobiologie, der an den Universitäten Frankfurt und München arbeitete, zieht mit diesem Buch die Summe seiner Einsichten in die Geheimnisse des Lebens und des Menschen.
Er erzählt die Geschichte des Lebens von der Spontanentstehung lebendiger Zellen aus präbiotischen Vorstufen bis zur Entstehung des Menschen. Nach meinem Urteil berücksichtigt Neuweiler die besten verfügbaren Ansätze, Beginn und Verlauf der Evolution zu verstehen sowie die Entwicklung zum menschlichen Gehirn.
Leben beruht auf Information, und Ausgangspunkt lebensbegründender Information war die Katalyse. (12) Neuweiler nimmt an, dass die katalytisch aktiven Stoffe des Lebens – die Proteine - sich an geeigneten anorganischen Katalysatoren gebildet haben. Allmählich wurde die präbiotische Katalyse durch katalytische Eigenschaften einiger der spontan gebildeten kleinen Proteine ersetzt, und als dieser Prozess einmal in Gang gekommen war, ließ er sich in verschiedener Hinsicht perfektionieren. Entscheidende Fortschritte waren dann, dass mit der Energiegewinnung aus dem Sonnenlicht das Energieproblem des Lebens gelöst war und mit der Einbeziehung von informationsspeichernden Molekülen (Genen) das Problem, gewonnene Information auch zu behalten. Die Schlussfolgerung: Die Essenz des Lebens ist der dynamische Informationsaustausch, die Interaktion zwischen Organismus und Außenwelt, durch die unablässig neue, in sich schlüssige Informationsnetzwerke in Form von Arten entstehen, die sich dem Wettbewerb um begrenzte Energieressourcen stellen, sich behaupten und eines Tages wieder untergehen, wenn sie den ständigen Veränderungen ihrer Lebenswelt nicht mehr gewachsen sind. (33)
Nach der Schilderung der kambrischen Explosion, in der vor 500 Millionen Jahren die Baupläne der heutigen Tierwelt entstanden, widmet sich der Autor den Leitlinien der Evolution, vor allem der zunehmenden Komplexität. Um davon reden zu können, wird ein Maß der Komplexität benötigt, anhand dessen sich Darmbakterium, Feuerqualle, Ringelwurm, Grottenolm und Schimpanse miteinander vergleichen lassen. Neuweiler erklärt: In der Biologie bedeutet Komplexität de facto Kooperativität, und je mehr Partnersysteme zusammenarbeiten müssen, umso komplexer wird das System. Kooperation im Lebendigen heißt .. Zusammenarbeit von Verschiedenartigem, .. spezialisierte(n) Enzymen, verschiedenartige Zelltypen, .. Organe, und verschiedenartige Organismen tragen das Gleichgewicht eines Ökosystems. (75f) Auf diesem Kompexitätsbegriff baut eine sehr starke These auf: Aufgrund der Natur der sich selbst organisierenden Proteine (77) .. kann die Evolution .. keinen anderen Weg als den zu immer komplexeren Systemen einschlagen,.. die sich durch Eigenschaften wie Lernfähigkeit, Gedächtnis, hohes Anpassungsvermögen, motorische Leistungsfähigkeit, differenzierte Wahrnehmung, rasche Assoziationskraft und schließlich Sozialstrukturen mit kulturellem Gedächtnis auszeichnen. (78) Sehr hilfreich ist auch die Feststellung, dass die Komplexität eine Organismus nicht mit dem Umfang des Genoms zusammenhängt; denn in dieser Hinsicht sind wir mit niederen Würmern gleichauf und werden wir vom Lungenfisch um Längen geschlagen.
Das folgende Kapitel über die Verbindung zwischen Umwelt und Genen diskutiert weithin unbekannte Vorstellungen von Mechanismen, wie man den Einfluss von Erfahrungen auf die vererbbare Information erklären kann, der von Lamarck behauptet, von Darwin aber streng zurückgewiesen wurde, und den es aufgrund neuerer Beobachtungen doch geben muss. Ein Beispiel ist die Beobachtung, dass Darmbakterien innerhalb weniger Tage lernen, bislang unverdauliche Zuckersorten aufzuschließen, wenn sie angeboten werden, und diese Fähigkeit auch dann weitervererben, wenn die neue Zuckersorte wieder aus ihrer Umwelt verschwindet. (87)
Als nächstes setzt sich Neuweiler mit der Rolle des Gehirns in der Evolution auseinander. Er schildert eindringlich das Wunderwerk der Nervenzelle (Neuron) und ihrer Verbindung mit einer anderen (Synapse): Die unüberschaubare Zahl von Regulierungsmöglichkeiten machen den kleinen postsynaptischen Membranfleck von ein paar Quadratmikrometer (1000 Mikrometer sind 1 Millimeter) zur kompliziertesten Funktionseinheit nicht nur des Gehirns, sondern des ganzen Organismus. (105) Und von diesen Nervenzellen hat der Mensch 10.000.000.000.000 (10 Billionen), die durch 100.000.000.000.000.000 (100 Billiarden) Synapsen miteinander verknüpft sind. (100) Diese unermessliche Kombinationsfähigkeit bedeutet einen Freiraum für Assoziationen des Erinnerns, des Weiterdenkens, Entscheidens und Handelns, (119) den es eben nur an einer Stelle im Universum gibt: Im sechsschichtigen Neocortex der Menschen. Wie ist es dazu gekommen? – Neuweiler unterscheidet zwei gegenläufige Strategien in der Konkurrenz der Arten zu überleben: Die riesige Artenvielfalt ist ein Resultat der Spezialisierung durch kumulative Adaptation, und die weltweiten Populationen einiger weniger Tierarten verdanken sich ihrer multifunktionalen Ausstattung als Generalisten. (131) Als Beispiel für einen extremen Spezialisten schildert Neuweiler die Lebensweise der Hufeisennase, die ihre Beute erkennt, indem sie die Dopplerverschiebung der ausgesandten Ultraschnallfrequenzen durch Reflexion an im Dschungel umher fliegenden kleinen Insekten erkennt; dadurch ist sie befähigt, in einer unübersichtlichen Umgebung mithilfe eines Ultraschallortungssystems zu jagen. Doch mit dem Zurückdrängen der dichten tropischen Wälder geraten auch die spezialisierten Fledermäuse unter Druck. Generalisten wie die Ratte, der Mensch und seine engsten Verwandten sind nicht auf Höchstleistungen in bestimmten Leistungsdisziplinen getrimmt, sondern behalten eine adaptive Flexibilität: Eine Katze wird Gemüse und Früchte stehen lassen, eine Ratte vernichtet alles, was ihr vor die Schnauze kommt. (137)
Und das spezifisch Menschliche? – Neuweiler berichtet, dass die Suche nach Unterscheidungsmerkmalen zwischen Primat und Mensch durch Genomsequenzierungen enttäuschend verlief: Die Größe unseres Gehirns, vor allem des Neocortex scheint genetisch erklärbar; anatomisch fällt die direkte Kontrolle des Neokortex über die Bewegungssteuerung vor allem der Hand und der Organe auf, die zum Sprechen gebraucht werden. Schließlich beschreibt er das System der Spiegelneuronen: Es bildet vermutlich über die motorische Nachahmung hinaus die Grundlage für die Fähigkeit, sich in einen anderen hineinzuversetzen. (165) Diese Systeme sind bei uns Menschen verglichen mit unseren Primaten-Verwandten gewachsen, grundlegend neu sind sie nicht. Interessanterweise bezeichnet Neuweiler trotzdem unsere motorischen und nicht unsere kognitiven Fähigkeiten zum entscheidenden Unterschied zwischen Mensch und Tier: Die motorische Fähigkeit zu sprechen und unsere Fingerfertigkeit sind die beiden einzigartigen Eigenschaften, die Kulturen und Zivilisationen schufen und unsere sprachlosen Verwandten im Tierreich zurückließen. (153)
Damit ist auch die Bildung gemeinschaftlicher Systeme angesprochen, die dem Menschen die soziale Intelligenz seines großen präfrontalen Cortex abverlangen, welche Tiere nicht haben; Neuweiler nennt zugehörige Fähigkeiten: Lernen durch Nachahmen, Kommunikationsfähigkeiten, das Lesen von Gesten, die Fähigkeit, dem Blick eines anderen zu folgen, und das Erkennen, was der andere mit seinen Aktionen beweckt. (193) Parallel zu der Fähigkeit sich in andere hineinzuversetzen reift bei Kindern in den ersten fünf Jahren auch das Selbstbewusstsein und das Ich-Bewusstsein, das sich allerdings der neurobiologischen Analyse .. entzieht. (196)
Im letzten Kapitel widmet sich Neuweiler der Frage nach unserer Zukunft. Er widerspricht dabei Lorenz, der die Natur als heile Welt darstellte und den Menschen als Störenfried und fordert: Eine humane Gesellschaft muss sich bewusst, wachsam und konsequent von den Regeln der natürlichen Evolution abgrenzen; maßgeblich sind die Eckpfeiler Menschenwürde und Autonomie menschlichen Handelns (227). Für die menschlichen Gemeinschaften, die sich im Laufe der kulturellen Evolution immer stärker zu einem Superorganismus vernetzen, der Menschheit, (228) fordert er aus evolutionsbiologischer Sicht den Aufbau Konflikt regelnder Institutionen. (226)
Da setzt auch meine Beurteilung des Buches an: So ermutigend Neuweilers Optimismus, so nachvollziehbar seine Forderungen sind, die Begründung mit der Evolutionsbiologie wird die Menschen nicht bewegen, ihnen zu folgen. Hier gerät ein Buch, das rein naturwissenschaftlich bleiben will und auf philosophische und metaphysische Interpretation konsequent verzichtet, an Grenzen; es reicht nicht aus, die künstlerische Kreativität zu loben (228), denn die Autonomie des Menschen befreit ihn auch dazu, durch seine Ausdruckmittel „weltanschauliche Systeme“ (so würde der Evolutionsbiologe das wohl nennen) zu errichten, die Individuen und Gruppen nicht als Ergebnisse einer Evolution erleben, sondern für wahr halten. Die Erkenntnisse, die Neuweiler in seinem Forscherleben gewonnen und in seinem Buch zusammen getragen hat, müssen dabei von einem modernen Glaubenden gewiss berücksichtigt werden, aber sein Glaube muss sich nicht im naturwissenschaftlich Beobachtbaren erschöpfen – Warum denn auch?
Karl Vörckel