Evolution: Emergenztheorie

Buchvorstellung - 03.02.2009

Philip Clayton
Emergenz und Bewusstsein
Evolutionärer Prozess und die Grenzen des Naturalismus (Religion, Theologie und Naturwissenschaft 16)

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (geplant 2008)
242 Seiten
ISBN 978-3-525-56985-6

Wie der Titel schon sagt, schlägt Philipp Clayton, ein kalifornischer Religionsphilosoph, das Prinzip der Emergenz vor, um über Grenzfragen zwischen Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften und Theologie ins Gespräch zu kommen. „Emergenz“ wird durch zwei Eigenschaften definiert:
Unterschiedenheit bedeutet, dass sich die Eigenschaften einer emergenten Ebene nicht mit Hilfe physikalischer Gesetze erklären lassen.

Abhängigkeit bedeutet, dass emergente Eigenschaften gleichwohl die Eigenschaften eines physikalischen Systems sind. (vgl. 49) Vorrangiges Anwendungsfeld des Emergenzbegriffs ist die biologische Evolution. Sehr sorgfältig und überzeugend setzt sich Clayton mit dem von ihm bedauerten Zustand auseinander, dass die ganze Biologie durch die reduktionistische Brille gesehen wurde. (109) Die Gesetze der Biochemie reichen Clayton zufolge nicht aus, Zellen zu verstehen, die Zellbiologie ist für komplexe Organismen nicht zuständig, und die Ökologie als Lehre vom komplexen Zusammenspiel der Organismen miteinander und mit ihrer Umwelt kann nicht auf die anatomischen und physiologischen Vorgänge im individuellen Lebewesen zurückgeführt werden. Sein eigentliches Thema erreicht Clayton, wenn er auf „Mentaleigenschaften“ zu sprechen kommt. Ich greife gleich den Schlüsselsatz heraus:
Die von mir hier vertretene emergentistische Sicht ist der Auffassung, dass eine korrekte explikatorische Ontologie mehrere Ebenen von „wirklich existierenden Eigenschaften“ einbeziehen muss, da Gehirne, Mentaleigenschaften und interpersonale Strukturen alle kausale Wirksamkeit ausüben. (160)
Clayton sperrt sich dagegen, „metaphysische Entitäten“ – etwa „Seele“ - einzuführen, sondern spricht gezielt von Mental-Eigenschaften, die er eben als Eigenschaften eines komplexen physikalischen Systems versteht, des Gehirns. Aber er argumentiert auf der anderen Seite entschieden für die „Abwärtskausalität“, also die aus der Physik heraus nicht zu verstehende Tatsache, dass der Mensch durch seinen Willen und seine Intentionen in der Physik seiner Körpers und darüber hinaus in seiner Umwelt Veränderungen bewirken kann.

Alte Vorschläge der Philosophie, diese Sachverhalte begrifflich auszudrücken, werden ebenso ohne nähere Auseinandersetzung abgetan – So behauptet Clayton kurzerhand, die „Entelechie“ des Aristoteles sei inkompatibel mit Naturwissenschaften (154) -, wie moderne Konzepte, mit Hilfe der Quantenphysik (Nancey Murphy und Thomas Tracy), dem Studium komplexer Systeme (Roger Sperry, Medizinnobelpreisträger 1981) die treibenden Kräfte in der Evolution hin zum Menschen zu erklären. (148, Anmerkung 47) Auch Michael Polanyis Zugang über die Informationsbiologie wird bereits als überholt bezeichnet. (33)

Im abschließenden Kapitel über „Emergenz und Transzendenz“ führt Clayton eine noch höhere Emergenzebene ein, die emergente Ebene der Person an sich: Es ist jene Ebene, die hervortritt, wenn ein integrierter Zustand zwischen einer Person und ihrem Körper, ihrer Umwelt, anderen Personen, und ihrem mentalen Allgemeinzustand etabliert ist, unter Einschluss der Interpretation ihres sozialen, kulturellen, historischen und religiösen Kontexts. (212) Mithilfe dieser Begriffsbildung will Clayton nun auch „göttliche Einflüsse“ in seinen emergentistischen Rahmen integrieren. Dabei gilt es eine Befürchtung naturalisti-scher Philosophen zu zerstreuen: - Wo Naturwissenschaftler Lücken in der „bottom-up“-Erklärung zugeben, würden Abergläubige sie mit Göttern, Geistern, Wundern und Magie füllen. (184) – und eine Gratwanderung zu bestehen: Je vager die Verweise auf göttliche Einflüsse in der Welt sind und je mehr sie auf reiner Berufung auf das Geheimnisvolle beruhen, desto weniger überzeugend werden sie für diejenigen sein, die prinzipiell der Objektivität solcher Behauptungen skeptisch gegenüberstehen. Je kompatibler sie anderseits mit akzeptierten Darstellungen menschlichen Handelns sind, desto glaubwürdiger werden sie. Wenn aber die resultierende Darstellung in allem, was sie vorhersagt, identisch mit den natürlichen Darstellungen ist, dann gibt es keinen Grund, sie als einen Fall göttlichen Handelns zu interpretieren. (210) Das soll geleistet werden, indem Gott als derjenige Träger personaler Eigenschaften angesprochen wird, der ohne einen materiellen Träger dieser Eigenschaften auskommt. Für den deutschen Leser bietet das Buch die Gelegenheit, die amerikanische Naturphilosophie der letzten 60 Jahre kennen zu lernen, aus deren Fundus Clayton schöpfen kann: Die Wissenschaftsphilosophen Charlie Dunbar Broad (1887-1971) und Samuel Alexander (1859-1938), der Psychologe Conway Lloyd Morgan (1852 – 1936) werden gleichsam als Väter der Emergenztheorie herangezogen, mit den naturalistischen Positionen von Ernest Nagel (1901-1985) und Thomas Nagel (geboren 1937) setzt Clayton sich gründlich auseinander; die 13-seitige Literaturliste enthält viele weitere Namen und gibt Zeugnis von um-fassender Kenntnis vor allem der amerikanischen Philosophieszene.

Abschließend ein Wort zur Übersetzung: Gesine Schenke Robinson und ihre Lektoren haben das Korrekturlesen offenbar nicht sehr ernst genommen; der Text ist durch auffallend zahlreiche Rechtschreib- und Grammatikfehler kontaminiert; außerdem hat die Übersetzerin die zahlreichen Zitate Claytons in englischer Sprache wiedergegeben, auch dann, wenn es sich um Zitate deutscher oder französischer Autoren handelt; welcher Vorteil für den Leser darin liegen soll, ist nicht ersichtlich.

Karl Vörckel