Navid Kermani: Der Schrecken Gottes. Attar Hiob und die metaphysische Revolte

Buchvorstellung - 11.01.2024

Navid Kermani zeigt, dass sich Judentum, Islam und Christentum mit denselben Fragen herumschlagen, wenn es um das Liebesverhältnis zu Gott und die Erfahrungen des Lebens geht.

Navid Kermani:
Der Schrecken Gottes
Attar, Hiob und die metaphysische Revolte

2. Auflage München (C.H. Beck) 2015
ISBN 978 3 406 68703 7
336 Seiten, mit Kalligrafien, Anmerkungen und Personenregister
14,95 €
 

Der fromme Aufklärer

Navid Kermani wurde 1967 in Siegen geboren und habilitierte sich im Fach Orientalistik. Sein Bekenntnis zu Deutschland und seinem politischen System fand Ausdruck, als er 2014 vor dem Deutschen Bundestag die Festrede zum 65. Geburtstag des Grundgesetzes hielt. Die engagierte Mitgliedschaft in der deutschen Gesellschaft für Sprache und Dichtung verbindet sich mit der Zugehörigkeit zum schiitischen Islam, und der vorliegende Band zeigt, über welche umfassende Bildung er in der iranischen Tradition verfügt. Gustav Seibt charakterisierte ihn als frommen Menschen, der zugleich Aufklärer ist und in dieser Doppelfunktion ist er in verschiedensten Kontexten überaus gefragt.

Brücke zwischen den Kulturen

Der vorliegende Band bringt drei auf den ersten Blick weit auseinanderliegende kulturelle Formationen miteinander ins Gespräch: Das Buch Hiob, die neuzeitliche Theodizee-Debatte, fokussiert auf Heinrich Heine (1797-1856) und den iranischen Dichter Attar (vermutete Lebensdaten: 1145-1221). Thematische Brücke ist die metaphysische Revolte, die Auflehnung gegen Gott vor dem Hintergrund der Leiderfahrung des Menschen.

Kosmologie des Schmerzes

Kermani wählt einen sehr persönlichen Zugang, die Beobachtung nahestehender frommer Menschen, denen in der Endphase ihres Lebens, den Tagen der Hilflosigkeit, der stumme Vorwurf, wie Gott ihnen dies antun könne, die Würde bewahrt. Es ist die Hiob-Situation, die Situation des Menschen, der sich weigert zuzugestehen, er habe das Leiden „verdient“. Es ist auch die Situation des deutschen Dichters Heinrich Heine, der in seiner Matratzengruft Gott wiederentdeckt, um ihn anzuklagen. Es ist die Situation der Opfer der Shoah, denen der Glaube die Kraft verlieh, unter den schlimmsten Umständen aufrecht zu stehen. Und es ist die Situation Attars, der in seinen vielen Schriften, insbesondere im  Buch der Leiden eine „Kosmologie des Schmerzes“ zur Darstellung bringt.

Liebe und Freiheit

Gerade ein Heiliger, ein Sufi wie Attar, dessen Liebe zu Gott über jeden Zweifel erhaben ist, gewinnt die Freiheit zur Rebellion gegen ihn, der zugleich fürchterlich spürbar und unwahrnehmbar geworden ist, wie Martin Buber mit Bezug zu Hiob sagt. Aber auch für Attar war es wohl nicht ganz ungefährlich, das Buch der Leiden zu verfassen, in Kermanis Augen der größte Ausbruch häretischer Frömmigkeit im Islam. Das Buch der Leiden ist nun keine systematische Lehre, sondern ein literarisches Werk mit einer Rahmenerzählung und vielen darin eingebetteten Gedichten und Anekdoten, und Attar gelingt es durch den Kunstgriff, seine rebellischen Aussagen dem Wanderer, bevorzugt dem närrischen, in den Mund zu legen und durch Kommentare einer Meisterfigur zu relativieren, dass sein Werk nicht als ketzerisch verurteilt wurde.

Der Reiz bei der Kermani-Lektüre liegt darin, dass er ausgehend von einzelnen Anekdoten aus dem Buch der Leiden oder benachbarten Schriften, ausgreift auf Probleme, die sich im monotheistischen Kontext stellen und die er auch in jüdischen und modernen Texten aufspürt. Am besten referiere ich zu diesem Verfahren ein Beispiel:

Qual und Heilung

Attar erzählt von einem Sultan, der gelangweilt in seinem Palast sitzt. Auf die Frage, warum niemand mit einem Anliegen kommt, antwortet der Wesir: „Weil Gerechtigkeit herrscht.“ Daraufhin schickt der Sultan seine Soldaten los, die Leute zu drangsalieren, der Palast füllt sich mit Bittstellern, und der Sultan lehnt sich zufrieden zurück. „Warum lässt Gott nicht Gerechtigkeit walten?“ – Attar lässt einen Weisen antworten: „Damit die Herrschaft Gottes an den Tag komme.“ Er erzählt die Geschichte eines Narren, der die Augen einer Verschleierten sieht und ihr verliebt folgt. Als sie ihn zur Rede stellt, gesteht er ihr seine Gefühle und sie hebt den Schleier und bringt den armen Kerl nun völlig außer Fassung. Er geht zu ihrem Haus kommt und randaliert an der verschlossenen Tür . Auf die Frage, warum die Frau dem Narren, dem sie niemals gehören wird, ihr Gesicht gezeigt habe, sagt sie: „Weil ich es gern habe, wenn man mich gern hat.“ – Das Motiv der Gottbeziehung als unglücklicher und gefährlicher Liebe finden wir im Buch Hosea und in vielen anderen Texten der monotheistischen Religionen; Heine wollte, da er sich als waidwundes Tier erlebte, Gott bei der Tierschützergesellschaft verklagen. Die Menschen kommen von Gott nicht los, weil es keinen anderen gibt, selbst wenn Gott als „Abtrünniger“ erlebt wird, der dem Menschen die Beziehung verweigert, um deretwillen er ihn doch geschaffen hat; er ist der Quäler, aber auch der einzige, der heilen kann. [Deuteronomium 32,39]

Rebellion aus Liebe

Wenn sich aber Frömmigkeit in der Rebellion ausdrückt, ist dann vielleicht Satan der Frömmste von allen? Hiob sieht sich verflucht, obwohl er Gott liebt, Satan sieht sich verflucht, weil er Gott liebt und die von ihm verlangte Verehrung des Menschen als Verrat an der Liebe zu Gott erlebt hätte, dem als einzigem Verehrung zusteht. In der grundlosen Verbannung des Liebenden liegt aber auch eine paradoxe Hoffnung. Attar legt Satan in den Mund:

Sollt er mich ohne Grund zu sich nehmen wieder,
Sollt’s nicht verwundern, wundert bei ihm doch nichts.
Wies er mich fort ohne Grund, braucht er
keinen Grund, um mich zurückzunehmen.

Das erinnert an Augustinische Gnadentheologie, Bernhards Leidensmystik, an das trotzig-liebende Gebet Rabbi Levi Jitzchaks: „Wenn du dich weigerst unsere Gebete zu erhören, spreche ich sie nicht mehr.“ Und es belegt Navid Kermanis Fazit: Heine, Levi Jitzchak und Attar gehören unterschiedlichen Kulturen und Zeiten an, aber sie verkehren im gleichen Archiv.

Irrwege der Religion

Das Buch setzt sich immer wieder mit Fehlentwicklungen in den monotheistischen Religionen auseinander und formuliert den Grundsatz: Eine Kultur erweist ihre Stärke, wenn sie radikale Kritik nicht Außenstehenden überlässt, sondern selbst betreibt. Dem Christentum wirft Kermani vor, aus Bequemlichkeit und Halbwissen Jesus Christus in „Zuckerwatte“ verpackt, den „Zorn Gottes“ wegretuschiert zu haben, der doch im Römerbrief eine so prägnante Rolle spielt. Den fundamentalistischen Fanatikern wirft er Unkenntnis der eigenen Glaubensgeschichte vor; Attar hingegen ist ein Vorbild der Offenheit und Toleranz und der Wut auf den Fanatismus. Den europäischen Intellektuellen wirft er mit Curtius vor, die eigene Vorschichte durch Ausschluss zu konstruieren und zum Beispiel die arabischen Vorbilder der göttlichen Komödie Dantes zu ignorieren.

Nutzen für den Religionsunterricht

Noch viele andere bemerkenswerte Einsichten aus Kermanis Buch habe ich in meinem Exzerpt notiert, aber eine Rezension darf nicht ausufern, und um alle Anregungen kennen zu lernen, muss man das Buch eben selbst lesen. Der Religionsunterricht kann davon profitieren, wenn einzelne Anekdoten und Gedichte ausgewählt und die Lernenden damit konfrontiert und provoziert werden. Da finden sich kurze Texte, die auf verschiedenen Anspruchsniveaus geeignet sind, unter anderen dieser:

An der Hand zieh mich, wenn du kannst
aus diesem Wirrwarr heraus, als wäre nichts gewesen.

Rezension: Dr. Karl Vörckel