Gehen Finden Teilen. Illustriertes Begleitbuch zur documenta fifteen

Buchvorstellung - 06.09.2022

Das Buch führt in das Prinzip "lumbung" (Scheune) ein und erschließt die Weltkunstschau documenta fifteen.

Julia Kluge, Nadine Redlich, Malwine Stauss (HRSG)

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Ein illustriertes Begleitbuch zur documenta fifteen.

Berlin (Hatje Cantz) 2022

Hardcover 96 Seiten
ISBN: 3775752838
15 €

EBook
EAN: 9783775753555
12.99 €

 

Das Buch unternimmt fünf Touren zu Kunstwerken der documenta fifteen und ist gegliedert anhand der fünf Grundsätze, die durch das Leitwort der Weltkunstschau lumbung eine anschauliche Verdichtung erfahren. Das Buch ist in einfacher Sprache geschrieben, kreativ illustriert und empfiehlt sich als Begleiter für Kinder und Erwachsene.

 

lumbung

ist ein indonesisches Wort und bedeutet Reisscheune. Es erweckt die Vorstellung, dass die Bauern eines Kollektivs ihre Ernte zusammentragen und in einem gemeinsamen Lagerhaus aufbewahren, damit alle mit dem Lebensnotwendigen versorgt werden können. Übertragen auf die Kunst bedeutet es die Zusammenarbeit kreativer Menschen, die sich mit ihren Gaben allen anbieten, um politische , ökologische, soziale Verbesserungen voranzubringen. Dabei hat man sich im Gespräch auf fünf Grundätze verständigt, und die Touren des Buches führen zu Stationen der documenta, die die einzelnen Grundsätze gut veranschaulichen.

 

Lokale Verankerung

In diesem Kapitel werden die Leser aufgefordert, sich ihre Umgebung genauer anzusehen, die Geräusche, die Gärten, die Buchstaben in der städtischen Umwelt. Ein Künstlerkollektiv aus Kenia, Nest Collective, hat alte Kleider und Elektroschrott, die wir Europäer in großen Mengen nach Afrika verschiffen, zurückgebracht und eine Art Lagerhaus daraus gebaut, das auf der Karlsaue von weithin sichtbar ist. Merke: Wenn wir das, was wir nicht mehr brauchen, in die Tonne schmeißen, ist das Problem nicht gelöst. Die „Sklandalgruppe“ Taring Padi aus Indonesien hat ein stillgelegtes Hallenbad in Bettenhausen bespielt. Schon vor dem Gebäude stehen viele, viele Pappschilder, mit denen sich Demonstranten gegen die Sonne oder gegen Wasserwerfer schützen und die liebevoll mit verschiedensten Motiven bemalt sind und einfache Botschaften tragen, zum Beispiel: „Wach auf für umfassenden Schutz der Schwestern durch Bildung“. Um diese natürlich in indonesisch formulierte Botschaft zu verstehen, braucht es allerdings den Google Translator – aber den gibt’s ja.

 

Der Skandal kam zustande, weil ein Plakat der Gruppe in der Form eines „Wimmelbildes“ in zwei Details antisemitisch gelesen werden kann, während die Gesamtaussage des Plakates „People’s Justice“ damit gar nichts zu tun hat. Wäre man der Forderung nachgekommen, die documenta daraufhin abzubrechen, hätte man Hunderten von Menschen den Mund verboten. Gut, dass die Weltkunstschau weiter gezeigt wird.

 

Humor

Die Humortour ist eine Comic-Geschichte, die von einer Reise unter anderem zur Grimm-Welt in Kassel erzählt. Die Märchensammlerei der Brüder Grimm und ihre Arbeit am deutschen Wörterbuch: Das ist ja für sich schon ein lumbung, ein Riesenmateriallager, aus dem freigebig ausgeteilt wird, seitdem es für alle im Netz steht. Indonesische und palästinensische Künstler stellen ihre Geschichten dazu.

 

Unabhängigkeit

Eine ziemlich andere Comicgeschichte vertritt das Motto: Wähle dein eigenes Abenteuer. Die Tour geht unter anderem zur documentahalle, in der eine Skaterbahn zum Mitmachen einlädt, und zum Hübner-Areal, einem verlassenen Firmengelände, das vielen Künstlern Raum bietet, unter anderem der Jatiwangi art Factory, die mit ihren Terracotta-Arbeiten die Erde bewusst macht, auf der wir stehen, und aus der wir Bausteine und Dachziegel herstellen, die der Besucher auch einmal als Musikinstrument ausprobieren darf.

 

Großzügigkeit

Nachdem wir der kleinen Käferin im Gewächshaus begegnen, wo die Kulturstiftung Mas Arte Mas Accion von der Pazifikküste Kolumbiens Baumstämme und Schadholz aus hessischen Wäldern ausstellt, geht es über viele Stationen, wo die Käferin viele neue Eindrücke aufsammelt, zurück zum Ausgangspunkt. Die Käferin hat vor, ihren weniger mobilen Artgenossen das Erlebte weiterzugeben, und steht vor dem Problem vieler documenta-Besucher: Wie aus der Fülle der Erlebnisse eine Geschichte formen? – Die Taube sagt dazu: Wir Tauben denken in Netzwerken.

 

Transparenz

Die letzte Tour stellt Fragen nach Sichtbarkeit, Vertrauen, Verantwortlichkeit, Aufrichtigkeit. Kunstwerke können solche Fragen nicht stellvertretend für mich beantworten, aber sie schaffen neue Kontexte, ermöglichen, andere Perspektiven einzunehmen.

Verspätung

Auf den ersten Blick kommt diese Buchvorstellung arg spät; denn die documenta schließt ja am 25. September 2022 ihre Tore. Zwei Gesichtspunkte haben mich bewogen, sie trotzdem zu verfassen. Erstens ist Religionsunterricht selbst ein lumbung, ein Sammelplatz, in dem Unterrichtende und Lernende ihre Kenntnisse und Fähigkeiten zusammentragen und großzügig miteinander teilen. Dabei kann ein Bedenken der fünf Grundsätze, die oben angesprochen wurden, nur hilfreich sein. Zweitens bleiben die zahlreichen Kollektive und Einzelkünstler, die sich auf der documenta präsentiert haben, über den 25. September hinaus aktiv; man kann sie im Internet finden, und viele teilen dort freizügig ihre Arbeiten, so dass sie weiterhin im Religionsunterricht und überhaupt in der Schule einbezogen werden können.

Eine Rezension von Karl Vörckel