Hrsg: 8. 10. 2020
Leitsymbol der Enzyklika ist der Polyeder, eine geometrische Figur mit vielen Ecken, Kanten und Flächen: „Der Polyeder stellt eine Gesellschaft dar, in der die Unterschiede zusammenleben, sich dabei gegenseitig ergänzen, bereichern und erhellen, wenn auch unter Diskussionen und mit Argwohn. Denn man kann von jedem etwas lernen, niemand ist nutzlos, niemand ist entbehrlich. Dies bedeutet, dass die Peripherien mit einbezogen werden müssen.“ [FT 215]
Wie kommt man dahin? Der Heilige Vater plädiert für eine „Kultur der Begegnung“ [FT 215], er fordert emphatisch: „Rüsten wir unsere Kinder mit den Waffen des Dialogs aus! Lehren wir sie den guten Kampf der Begegnung!“ [FT 217]. Nötig sind dafür die Tugenden des Wohlwollens [FT 112], der Freundlichkeit [FT 223, Galater 5,22], und die Dreieinigkeit aus Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. „Die drei vereint sind wesentlich, um den Frieden aufzubauen.“ [FT 227] Der Anspruch an den einzelnen, sein gewohntes Umfeld zu transzendieren, ist fraglos anstrengend; doch der Papst betont: „Wir können nicht zulassen, dass jemand „am Rand des Lebens“ bleibt. Es muss uns so empören, dass wir unsere Ruhe verlieren und von dem menschlichen Leiden aufgewühlt werden. Das ist Würde.“ [FT 68]
Indem er so die notwendige Grundeinstellung des einzelnen Menschen umschreibt, reflektiert der Papst, wie sich durch Menschen solcher Haltung die Welt verändern könnte. Dabei kommt es zu einer eigentümlichen Dialektik: Das Transzendieren der eigenen Grenzen bedeutet gerade die Legitimierung des Volksbegriffs [vgl. FT 157] die Achtung der eigenen Identität [vgl. FT 158], der Familie, deren Verhaltensregeln der Papst auf größere Gemeinschaften übertragen sehen möchte. [FT 230] Das könnte in etwa so aussehen: „Eine echte gesellschaftliche Begegnung bringt die großen kulturellen Formen, die die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, in einen wahren Dialog. Häufig werden von den ärmsten Randgruppen gute Vorschläge nicht aufgegriffen, weil sie in einem kulturellen Gewand präsentiert werden, das nicht das ihre ist und mit dem sie sich nicht identifizieren können. Daher muss ein realistischer integrativer Sozialpakt auch ein „Kulturpakt“ sein, der die unterschiedlichen Weltanschauungen, Kulturen oder Lebensstile, die in der Gesellschaft nebeneinander bestehen, respektiert und berücksichtigt.“ [FT 219]
In einem zentralen Gedankengang der Enzyklika wird die Geschichte vom Mann aus Samaria aufgegriffen, der einem von Räubern verprügelten Verletzten hilft. [FT 56: Lukas 10,25-37] Das Paradigma hilft, die Diagnose auszusprechen: „Wenn wir den Blick auf die Gesamtheit unserer Geschichte und auf die ganze Welt ausweiten, sind wir oder waren wir wie diese Gestalten: wir alle haben etwas vom verletzten Menschen, etwas von den Räubern, etwas von denen, die vorbeigehen, und etwas vom barmherzigen Samariter.“ [FT 69] Und wir sollten den Wirt nicht vergessen, denn „der barmherzige Samariter ein Gasthaus zur Unterstützung, weil er es momentan nicht allein schaffen konnte“. [FT 165] Die Diagnose wird ausgefaltet in einer umfassenden Gesellschaftskritik: 32 Stichwörter für Fehlentwicklungen habe ich gezählt, angefangen bei so konkreten wie Todesstrafe [FT 255] oder Menschenhandel [FT 189], weiter bei umfassenden Erscheinungen wie der „sozialen Aggressivität“ [FT 44] und der „Herrschaft des Geldes“ [FT 116] bis hin zu abstrakten Vorwürfen wie Individualismus [FT 105] und Relativismus [FT 206].
Das sind Themen, die im Religionsunterricht und in der Schule allgemein eine große Rolle spielen. Kaum ein Lehrplan kommt ohne die Zielvorstellung des dialog- und begegnungsfähigen Menschen aus; konkret wird die darauf hinzielende Bildung, wenn mit den jüngeren Schülerinnen und Schülern über Gerechtigkeit erfahrungsorientiert nachgedacht, wenn Heranwachsende mit den Forderungen des Gewissens konfrontiert werden und in der Oberstufe ethische Konzepte in ihren Auswirkungen im lokalen und weltweiten Maßstab erarbeitet und beurteilt werden. Man wird die Enzyklika immer wieder als Fundgrube für Texte nutzen können, die anregende Gedanken in die Diskussion einbringen.
Trotzdem wird man sagen müssen, dass diese sehr umfangreiche Enzyklika den von ihr selbst markierten Ansprüchen nicht in vollen Maß gerecht werden kann. Wenn Dialog eines der zentralen Anliegen des Anschreibens ist, dann befremdet es doch, dass der Papst in mehr als der Hälfte der Zitate sich selbst zitiert und in etwa neun Zehntel kirchliche Dokumente und Theologen der Tradition. In einigen Rezensionen wird hervorgehoben, dass die Enzyklika in bislang unüblichem Maß auf eine gemeinsame Erklärung des Papstes mit Ahmad al-Tayyib eingeht und sie ausführlich zitiert [FT 285]. Al-Tayyib (*1946) ist Scheich (Rektor) der Azhar-Universität in Kairo, der größten islamischen Bildungsstädte der Welt. Der Dialog des Papstes mit nicht kirchlichen Würdenträgern und seine Auftritte vor der UNO und ihren Gliedorganisationen sollte aber den innerkirchlichen Dialog nicht ersetzen, sondern ergänzen, dann könnte auch deutlicher werden, was die kirchlichen Gliedorganisationen zur Solidarisierung der Welt bereits heute beitragen und wo die Defizite liegen.
Damit hängt zusammen, dass der Papst anprangert, ohne in Alternativen zu denken. Auf den ersten Blick ist es plausibel, erneut die „Wegwerf-Kultur“ [FT 188] zu geißeln oder die „Versessenheit auf einen konsumorientierten Lebensstil“. [FT 36] Aber was ist die Alternative? – Sollen Abstriche an der Lebensmittelsicherheit gemacht werden? Soll den Menschen vorgeschrieben werden, wie sie sich ökologisch korrekt und zugleich gesünder zu ernähren haben, und werden sich die Menschen diese Bevormundung gefallen lassen? – Was geschieht, wenn der Konsum zurückgeht, die Menschen nicht mehr reisen, ausgehen, shoppen, hat sich in den Monaten der Corona- Epidemie gezeigt: „Das große Thema ist die Arbeit,“ [FT 162] sagt der Papst zu Recht; doch die wird nicht mehr gebraucht, wenn der Konsum zurückgeht, in Deutschland abgefedert durch die Kurzarbeit, in Indien und den USA werden massenhaft Menschen gefeuert. Keine Frage, dass die Herrschaft des Geldes mit Elend in vielen Teilen der Welt verbunden ist. Aber wird es besser, wenn Diktatoren ohne Rücksicht auf den wirtschaftlichen Niedergang ihrer Länder Machtanspräche geltend machen, wie es in Weißrussland, Russland und der Türkei zur Zeit geschieht?
Es ist nicht so, dass der Papst die Kirche von Kritik ausspart; aber eine Bestandsaufnahme des Zustandes der Kirche selbst und ihrer eigenen Möglichkeiten zur Verbesserung der Welt hätte dem Schreiben mehr Bodenhaftung verleihen können.