Routenplaner #Digitale Bildung

Buchvorstellung - 18.03.2020


Philippe Wampfler
Routenplaner Digitale Bildung
Auf dem Weg zu zeitgemäßer Bildung. Eine Orientierungshilfe im digitalen Wandel

 

Hamburg, Verlag Booksondemand, 2019
300 Seiten Gebundenes Buch (ISBN 9789463865333) 22,50 €
Ebook (Download: ISBN 9789463865388) 1,99 €

Das Buch hat eine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte, und die Autoren rechnen mit einem ungewöhnlichen Leseverhalten, indem jedem der 36 Aufsätze „Empfehlungen zum Weiterlesen“, also zum Vor- und Zurückspringen innerhalb des Bandes, mitgegeben werden. Zu solchem nicht-linearen Lesen wird von Wampfler eigens angeleitet. Das Buch ging aus Debatten im Netz hervor, ist gewissermaßen eine Abschrift des Internet, und die beschriebene Verweisstruktur ahmt Hypertextualität nach. Zusätzlich gibt es ein Pendant des Buches als Homepage. Dort kann man die Grafiken besser anschauen als zumindest in meiner EBook-Version.
Die Argumentationslinien der Autoren seien knapp herausgearbeitet.

Mehr als effizientere Wege zu alten Zielen
Muuß Merholz wendet sich vor allem dagegen, dass mit digitalen Medien eine in seiner Sicht überholte Pädagogik mit einem neuen Mäntelchen aufgemotzt wird. Der digitalen Welt angemessen sei eine Schule, die jedem Lernenden ein von ihm her gedachtes Lernangebot macht, in welchem er oder sie sich weitgehend frei bewegen kann. Zusammen mit den anderen Autoren kritisiert er den Begriff „Mehrwert“ digitaler Bildung. Wenn man die Ziele der „alten Schule mit uniformen Schülern und instruktionistischer Lehre“ mit neuen Medien effektiver anstrebt, ist das geforderte maßgeschneiderte Bildungsangebot für den einzelnen Menschen gerade nicht im Blick. In dieser Linie liegt die Kritik an Lernvideos (Muuß Merholz) und einer „Quizizierung“ der Schule (Wampfler) durch interaktive Angebote, etwa online lösbare Multiple-Choice-Aufgaben.

Die 4K-Skills
Eine neue Zeit brauche neue Ziele und neue Wege dahin. Die Reproduktion von Fachwissen verliere rasant an Wert, behauptet Mihajlović. Die künftig gefragten Fähigkeiten werden als „4K-Skills“ bezeichnet: Kommunikation, Kreativität, Kollaboration und kritisches Denken. Lisa Rosa definiert, was damit gemeint ist. Wampfler hat ein konkretes Beispiel: Da Taschenrechner heute zuverlässig dividieren können, sei das Erlernen des Algorithmus der schriftlichen Division obsolet. Er stellt sich eine Schule als „Makerspace“ vor, der Normalfall ist Projektunterricht. In ähnliche Richtung geht ein Argument von Muuß Merholz, der dafür plädiert, digitale Kompetenz den Fähigkeiten, zu lesen, schreiben und rechnen, nicht als zusätzliche Befähigung hinzuzufügen, sondern anzuerkennen, dass die Digitalität den Charakter des Lesens, Schreibens und Rechnens selbst verändere. Wampfler beklagt, dass solche Einsichten der „Pioniere der digitalen Bildung“ noch so wenig rezipiert werden.
Das Buch entwirft die Idee einer Bildungslandschaft als Raum umfassender Teilhabe. Mihajlović sagt fast triumphierend: „Die Karten der Deutungshoheit werden neu gemischt.“ Beispiele wie die #metoo Kampagne und Greta Thunberg zeigten, dass die Digitalität Menschen Mitwirkungschancen gewährt, die früher keine Lobby hatten. Blogs, Etherpads und Beteiligungsplattformen seien Instrumente einer Schule, die in diese Richtung weisen. Geworben wird für Barcamps in der Lehrerfortbildung; sie seien Räume „für eine Kultur der Digitalität“.

Ambivalente Haltung zum Datenschutz
Die Autoren betonen die Privatsphäre und die informationelle Selbstbestimmung, unter anderem in Form einer feierlichen „Erklärung der digitalen Lernrechte“, die Lindner nach einer amerikanischen Vorlage zusammenfasst. Anderseits möchte man sich die pädagogischen Möglichkeiten nicht einengen lassen, weshalb Wampfler für einen entspannten Umgang mit dem Datenschutz plädiert. Lindner weist entschieden Versuche zurück, das Verhalten Jugendlicher im Umgang mit den digitalen Medien in Krankheitsbilder – z.B. „Internetsucht“ – zu fassen. Krommer wiederum warnt vor der Maxime „Einfach mal machen“ und plädiert für die Vorschaltung pädagogischer Reflexion vor dem praktischen Experiment.
Schließlich gibt es praktische Anleitungen. Zum Beispiel gibt Muuß Merholz Tipps, wie man mit einer Powerpoint-Präsentation einen Vortrag bereichern kann und wie nicht. Diese werden häufig zum Schaden der Verständlichkeit missachtet.
Das Buch beleuchtet die aktuelle und spannende Frage künftiger Bildung aus mehreren Perspektiven. Allerdings stimmen alle Autoren in einer Gesamttendenz überein, die man nicht kritiklos übernehmen muss: Wer so pauschal vom „Lernen“ spricht und weder die Unterschiede zwischen Mathematik, Naturwissenschaften, Gesellschaftswissenschaften, Religion, Sprachen und Sport im Blick hat noch die Unterschiede zwischen den Stufen und den Schularten, der hat offenbar eine sehr hohe Warte eingenommen und sieht von dort herab auf eine dem Instruktionsmodell verfallene Bildungslandschaft, die es doch so gar nicht mehr gibt - und vielleicht nie gab.

Kritische Anfragen an das Buch
Beschreiben die Autoren die aktuelle Herausforderung richtig? - Die reformpädagogische Grundforderung eines Unterrichtes, der vom individuellen Lernenden her gedacht ist, lässt sich bis auf Bischof Johann Amos Comenius (1592-1670) zurückverfolgen, und den Projektunterricht gibt es im Hochschulunterricht seit dem 16. Jahrhundert. Vor und nach dem ersten Weltkrieg wurde die Projekt- oder Arbeitsschule schon einmal als Ideal propagiert, und das traditionelle Bildungssystem hat davon gelernt: Wochenplanarbeit, individuell zugeteilte Aufgaben, ausgewiesene Projektwochen, die mit dem Fachunterricht verzahnt sind, gehören längst zum Standard.


Wird wirklich „alles“ komplexer? - Die Probleme, die unsere Gesellschaft schlecht bewältigt, sind keineswegs alle „komplex“ im Sinne einer steigenden Informationsflut. Warum sterben 15.000 Menschen im Jahr an Krankenhauskeimen? Es hat mit Demografie zu tun, mit technokratischer Organisation, mit Verantwortungsbewusstsein. Das sind alt-vertraute „Komplexitäten“.


Wird alles, was vernetzt werden kann, früher oder später vernetzt? - Die globalen Netzwerke stießen anfangs auf unkritische Euphorie, inzwischen ist jedoch das Gefahrenpotential deutlicher geworden. Menschen erleben, dass man in sozialen Netzwerken viel Zeit verplempern kann; einige disziplinieren sich, andere haben ihre Accounts gelöscht. Man hört viel von der Abschottung sensibler Daten vom Internet, ohne die ein sicherer Schutz nicht gewährleistet zu sein scheint. – Aber welche Daten sind nicht sensibel?


Ist reproduzierbares Wissen tatsächlich obsolet? Wenn die schriftliche Division obsolet ist (Wampfler), weil Taschenrechner das viel besser können, was dann noch? – Google Translator spuckt auf Knopfdruck die Vokabeln beliebiger Fremdsprachen aus, wikipedia weiß alle Geschichtszahlen. Muss man deshalb so etwas nicht mehr einüben? An einem Beispiel aus dem Buch selbst kann man einiges lernen: Unter den 4K-Skills taucht das Wort „Kollaboration“ auf? Dieses Wort ist seit 80 Jahren in der Definition „Unterstützung einer unterdrückerischen Fremdherrschaft“ negativ belastet. Spätestens mit Karl Marx ist hingegen das Wort „Kooperation“ positiv konnotiert, und es passt in die „4K“. Das kann man in fünf Minuten googeln, wenn man richtig sucht, aber dazu muss man vorher etwas wissen.

Zusammenfassende Würdigung

Die Digitalisierung des Wissens kommt nicht erst, sie hat bereits vor mindestens 5000 Jahren durch die Erfindung der Schrift begonnen. Damals befürchteten die Weisen, Schreibkundige würden sich den Verzicht auf das eigene Gedächtnis leisten können. Das Gegenteil passierte: Das auswendig Gewusste nimmt im Schnitt seit damals stetig zu. Auch künftig wird mitmischen, wer mit hinreichend viel Wissen vertraut ist, um unter den irrsinnig vielen möglichen Suchstrategien die erfolgversprechendste zu wählen.


Lernen Menschen nur, was sie sinnvoll finden? - Sicher, aber „Sinn“ ist wandelbar. Die Schule ermöglicht Begegnungen, lässt die Lernenden Eignungen und Interessen entdecken, um die sie zuvor nicht wussten, und sie gibt, wovon in dem Buch gar nicht die Rede ist, ein Feedback, damit die Jugendlichen lernen sich selbst realistischer einzuschätzen. So werden Sinnhorizonte erweitert, kindliche Vorstellungen manchmal schmerzlich transformiert. Angesichts der zunehmenden Vielfalt möglicher Lebensentwürfe nimmt die Relevanz der Schule als Weichensteller der Bildungsgänge und Lebensentwürfe zu.

Dr. Karl Vörckel für rpp-katholisch