New Dark Age

Buchvorstellung - 23.01.2020

James Bridle
New Dank Age
Der Sieg der Technologie und das Ende der Zukunft

Übersetzt von Andreas Wirthensohn - München (C.H. Beck) 2019 - ISBN 978 3 406 74177 7 - 320 Seiten mit 25 Abbildungen - 25,00 €


James Bridle, Jahrgang 1980, hat sich als Experte für Künstliche Intelligenz und vor allem als Künstler einen Namen gemacht. Bekannt ist zum Beispiel die Arbeit The Drone Shadow Catcher, in der Bridle an prominenten Orten die Umrisse eines ferngelenkten bewaffneten Aufklärungsflugzeuges (MQ-9 Reaper) auf den Boden zeichnet, um auf die überall mögliche Überwachung hinzuweisen. Das Buch New Dark Age ist illustriert mit Fotos des Autors und anderer, die architektonische Manifestationen von Geheimhaltung und demonstrativer Transparenz, von Vernetzung und Abschottung vorführen.

Bridles Diagnose lässt sich in seinen eigenen Worten so zusammenfassen: Unser Unvermögen eine komplexe Welt zu begreifen, führt zur Forderung nach immer mehr Informationen, was unser Verständnis nur noch weiter vernebelt, denn es offenbart immer mehr Komplexität, der wir mit immer komplizierteren Theorien über die Welt zu Leibe rücken müssen.
Diese Diagnose wird nun nicht systematisch entwickelt, sondern in vielen Recherchen veranschaulicht: Schon Vorschulkinder sind einem Zuviel ausgesetzt, wenn sie von verantwortungslosen Eltern mit einem Gerät ruhiggestellt werden, das Youtube-Videos abspielen kann. Die Logik, durch die auf Videoplattformen Clips aneinandergefügt werden und nach der sie für die Plattformen produziert werden, folgt einem Kosten-Nutzen-Kalkül. Wenn also die Kinder bei schockierenden und traumatisierenden Bildern landen, weil deren Produzenten unter anderem kindertypische Wörter wie zum Beispiel „Teletubbies“ mit in ihre Titel aufgenommen hatten, kann man nicht sagen, dass Youtube oder Anbieter dort Kinder verderben „wollen“. Vielmehr steckt dahinter eine zum Teil bewusste, zum Teil den Algorithmen überlassene Strategie, mehr Besucher anzulocken und Werbeeinnahmen zu erzielen. Einige Fakenews, die im Rahmen des Präsidentschaftswahlkampfs für Donald Trump eine Rolle spielten, unter anderem die Falschbehauptung, der Papst unterstütze den Kandidaten, wurden in Veles in der Republik Nord-Mazedonien produziert. Den jungen Leuten dort lag es fern, Donald Trump zu helfen. Sie hatten nur entdeckt, dass Trump-Anhänger zu den gierigsten Nachrichtenkonsumenten gehörten, die sich in leicht zu findenden Facebook-Gruppen zusammengetan hatten und die zu bedienen hohe Besucherzahlen und damit gute Einnahmen garantierte. Das Netz macht bisweilen ununterscheidbar, ob Inhalte gezielter Desinformation dienen, vom Algorithmus um der Clicks willen produziert wurden oder paranoider Fiktion entstammen.
Weihnachten 2009 wurde ein Anschlag auf einen Flug von Amsterdam nach Detroit in letzter Minute durch einen beherzten Passagier der Maschine vereitelt. Der Attentäter war als Terrorverdächtiger bekannt, er hatte eine ganze Reihe von Kontrollen passiert, und alle Welt fragte sich, wie das passieren konnte. Nachdem die amerikanische Regierung versucht hatte, die Schuld auf die laschen Kontrollen der Niederländer zu schieben, musste Präsident Obama schließlich eingestehen, dass man die erforderlichen Informationen zwar hatte, aber nicht zusammenführen und deuten konnte; es waren einfach zu viel Informationen. Dazu passt der Seufzer eines Kommandeurs der US-Luftwaffe: Wir schwimmen in Sensoren und ertrinken in den Daten. Und ständig werden neue Sensoren eingebaut und Massen von Daten erzeugt, deren Wert davon abhängt, dass man den Algorithmen, die die Daten durchforsten sollen, die richtigen Fragen stellt. Das 2006 von Clive Humby geprägte Wort, Daten seien das neue Öl, wird meistens einseitig dahingehend verstanden, dass man mit Daten künftig so viel Geld verdienen kann wie in der Vergangenheit mit dem Öl. Dabei wird übergangen, dass das Öl, wie es in der Erde liegt, erst dadurch seinen Wert gewinnt, dass es raffiniert und zu Benzin, Heizöl und Plastik verarbeitet wird. So liegt auch der Wert der Daten in der Qualität ihrer Verarbeitung und Nutzung.
James Bridle hat entgegen dem ersten Anschein ein hoffnungsvolles Buch geschrieben. Er meint, dass echte Bildung auch angesichts heutiger Technologie wünschenswert und möglich ist. Allerdings besteht sie nicht darin, die Anwendung irgendeiner neuen Technik schon als Allheilmittel zu sehen, sondern sensibel zu sein für die Interaktion zwischen den Systemen, für die Grenzen der Technik, ihren Nutzen und die Möglichkeiten des Missbrauchs. Vor allem hat die Dunkelheit des kommenden Zeitalters für ihn nichts Bedrohliches. Sie ist einer Situation, in der alles „ans Licht“ kommt, allemal vorzuziehen.
Der Wert des Buches liegt in den gründlich recherchierten und gut analysierten Geschichten, bei denen es um Mediennutzung und -angebot, um Schachcomputer, Hochfrequenzhandel, Überwachung, Verbrechensvorhersage, die Pharmabranche und vieles andere geht. Manchmal braucht man etwas Geduld, bevor man begreift, worauf der Autor hinauswill, bei einigen Passagen bin ich unsicher, ob ich das überhaupt verstanden habe. Die Schilderungen Bridles könnten gleichwohl im Religions-, Ethik- und Politikunterricht gute Impulse sein, um Diskussionen anzustoßen und leichter zum Nachdenken anregen als abstraktere Textformen. Man könnte das Buch mit einem Kunstwerk vergleichen, dessen Aufgabe nicht darin liegt, eine systematische Zeitdiagnose vorzulegen, sondern konkrete Veranschaulichungen des Bedrohlichen und Hoffnungsvollen interpretationsoffen zu präsentieren.

Dr. Karl Vörckel für rpp-katholisch