Die Chancen des Religionsunterrichts an Berufsschulen
Die Jahrestagung der katholischen Religionslehrer an Berufskollegs im Erzbistum Paderborn hat sich gerade exemplarisch mit der Konzeption von Unterrichtswerken für den Religionsunterricht an Berufskollegs befasst. Vielen Zeitgenossen ist dabei gar nicht bewusst, dass der Religionsunterricht in den Pflichtkanon der dualen Berufsausbildung gehört. Im folgenden Beitrag zeigt Dr. Siegfried Meier vom Institut für Religionspädagogik im Erzbistum Paderborn auf, worin die Chancen des Religionsunterrichts für Berufsschüler bestehen.
PADERBORN.- Orientierung geben: Individualisierung, Pluralisierung, Digitalisierung, Globalisierung - Schlagworte, die in unserer heutigen Gesellschaft unbegrenzte Möglichkeiten zu eröffnen scheinen. Schüler an Berufskollegs erfahren diese „Offenheit“ durch einen Dschungel an Ausbildungs-wegen und -möglichkeiten, Flexibilisierung von Arbeitsplätzen und -zeiten. Auch im religiösen Bereich gibt es diese Mobilitätsherausforderung. So „konkurrieren“ die christlichen Kirchen mit anderen Weltreligionen wie dem Islam oder Buddhismus. Hinzu kommen Angebote aus der Esoterikszene, von Scientology, Satanisten oder anderen Mischformen religiöser oder pseudoreligiöser Sinnträger. Berufsschüler erleben ein gesellschaftliches Umfeld, das für sie im Gegensatz zu früheren Generationen viel-fach unübersichtlicher geworden ist. Gegen den Trend beliebiger und überfordernder Möglichkeiten setzt das Fach Katholische Religionslehre einen Interpretationsrahmen, wie Welt, Geschichte, Kosmos und Mensch betrachtet werden können. Die eigene (religiöse) Identität stärken:
Eine von Nipkow ausgewertete Untersuchung über die Religiosität von Jugendlichen an Berufsschulen hat ergeben, dass die Auszubildenden kompetente Antworten auf folgende Fragen einfordern: „Woher komme ich?“ „Gibt es Gott überhaupt und begleitet er mich?“ „Kann Gott widersinnigem Leid einen Sinn geben?“ „Was wird aus mir, wenn ich sterbe und was wird aus dieser Erde, die eines Tages zerstört wird?“ In der beruflichen Bildung besteht das Recht der Auszubildenden, auch in religiösen Fragen informiert und begleitet zu werden. Indem so die Schüler ihre eigene Biografie mit der jüdisch-christlichen Glaubensperspektive in Beziehung setzen, werden sie sich sicherer über ihre Identität. Neue Lebensentwürfe er-möglichen: Gegner des Religionsunterrichts an Berufskollegs verweisen gern darauf, dass ein Schüler mit Abschluss der Klasse 10 die Allgemeinbildung hinter sich gebracht haben müsse. Nun ist aber entwicklungspsychologisch nachgewiesen, dass junge Menschen zwischen 16 und 24 Jahren einen „Schub“ in ihrem Reflexionsvermögen er-leben. Sie werden damit fähig, in einer anderen Qualität als bisher über sich selbst nach-zudenken und ihr Leben neu zu ordnen.
Damit ermöglicht der Religionsunterricht das Aufbrechen neuer Lebensentwürfe im Berufsschulalter. Berufliche Handlungskompetenz fördern: Da heutzutage Auszubildende nicht mehr nur für ein klar abgegrenztes Berufsfeld ausgebildet werden, in dem sie ein ganzes Leben tätig sein können, werden in zunehmendem Maße Breitenqualität und Übersichtswissen verlangt. Eine Berufsqualifikation, die Fachkompetenz mit sozialen und humanen Fähigkeiten verbindet, steht somit im Vordergrund. Der Religionsunterricht ist hier gut auf-gestellt. Er vermittelt religiös-kulturelles Übersichtswissen und er behandelt die Ängste, Sorgen, Hoffnungen und Sehnsüchte der Berufsschüler vor einem theologischen Ho-rizont. Zur beruflichen Handlungskompetenz gehören weiterhin folgende Merkmale, die im Religionsunterricht mitlaufend gefördert werden: Optimismus und Solidarisierungsfähigkeit, Arbeitsethos, Teamfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, Empathievermögen und Rücksichtnahme. Zu-dem bemühen sich verstärkt die Religionslehrer, berufliche Situationen und Problemstellungen im Religionsunterricht zu berücksichtigen. Werte begründen und zu christlichen Werthaltungen erziehen: Immer wieder wird beklagt, dass angesehene Werte, von der eine Gesellschaft lebt, verloren zu gehen scheinen. Im Konzert aller anderen Fächer an Berufskollegs kommt daher auch und insbesondere dem Religionsunterricht die Aufgabe zu, Ehrlichkeit, Rücksichtnahme, Dialogbereitschaft, Toleranz und Duldsamkeit als tragfähige Säulen vorzustellen und sie mit Leben zu füllen.
Ein Vorzug des Religionsunterrichts besteht nun darin, dass er aus christlicher Glaubenstradition darlegen kann, wie bestimmte Werthaltungen entstanden sind und warum sie für wichtig erachtet wer-den. Solch gewonnene Einsichten helfen, die Akzeptanz von (christlichen) Werten und Normen auf Schülerseite wie auch im betrieblichen Zusammenleben zu erhöhen. Den Alltag unterbrechen: Während im Wirtschaftsleben Effizienz zählt, stellt die Schule eher den persönlichkeitsfördernden Aspekt in den Mittel-punkt. Daher erhalten Berufsschüler im Religionsunterricht die Möglichkeit, in Muße bzw. über entschleunigtes Lernen in die Tiefe existenzieller Fragen zu gehen. Von Zeit zu Zeit tut es gut, Abstand zu den Dingen des Alltags zu finden und sich bewusst zu werden, an welcher Stelle des eigenen Lebensweges man steht. Dies schließt eine kritische Bestandsaufnahme der beruflichen Ausbildungssituation, des Familienlebens, der Freizeit sowie der politischen und sozialen Verhaltensweisen nicht aus.
Zur Person:
Dr. Siegfried Meier ist 50 Jahre alt und Lehrer für katholische Religion und Eng-lisch. Seit 1992 betreut er das Referat „Religionsunterricht an Berufskollegs, Gesamtschulen, Gymnasien und Einrichtungen des Zweiten Bildungsweges“ in der Hauptabteilung Schule und Erziehung im Generalvikariat.
Quelle: Der Dom, Nr. 4, 25. Januar 2009
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(UN)