Die Theologische Fakultät der Universität Münster hat im Projekt "Asking the Pope for Help" auf der Basis von Briefkorrespondenzen verfolgter Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus ein Unterrichtsmaterial über die Rolle des Vatikans in der Shoah entwickelt und evaluiert. Das umfangreiche Unterrichtsmaterial ist kostenlos und wird für Jahrgangsstufe 9/10 und die gymnasiale Oberstufe empfohlen.
Was haben Leo und Emmy Steinweg, Siegbert Steinfeld, Franz und Meta Brinnitzer, Dorothea Fraenkel, Ludwig Baum, Friederike Herzfeld oder Armin Ball gemeinsam? Bei diesen Personen handelt es sich um politisch verfolgte Jüdinnen und Juden in der Zeit des Nationalsozialismus. Sie wandten sich in Briefen an Papst Pius XII. und baten um Hilfe. Insgesamt etwa 10 000 ähnliche Bittschreiben an den Papst aus der Zeit der Shoah haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Münster ausgewertet und evaluiert. Entstanden aus dem brieflichen Vermächtnis der Verfolgten sind umfassende und tiefgreifende Unterrichtseinheiten für die Jahrgangsstufen 9 bis 13.
Lückenlose Aufarbeitung der Geschichte
„Durch die kritisch aufbereiteten Quellen aus der Perspektive der Verfolgten schließen wir eine wichtige Lücke in der Überlieferung und geben den zu Opfern gemachten Menschen mittels ihrer eigenen Geschichte ihren Status als handelnde Akteure zurück“, erläutert Kirchenhistoriker und Projektleiter Prof. Dr. Hubert Wolf im Artikel "Jüdische Bittschreiben: Forscher stellen Unterrichtsmaterial bereit" auf der Homepage der Universität Münster.
Mit den Unterrichtssequenzen können Schülerinnen und Schüler erstmals die verschiedenen Biografien der Bittstellerinnen und Bittsteller in Zeiten von Totalitarismus, Weltkrieg und Shoah verfolgen, erarbeiten und vergleichen. Eine Besonderheit des Materials: Ihr modularer Aufbau.
„Vor einem Jahr hatten wir das Material noch nicht modular, sondern in Form einer vollständigen Sequenz konzipiert“, sagt Alissa Geisler, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Religionspädagogik und Pastoraltheologie der Universität Münster. „Da aber selbstverständlich nicht alle Lehrkräfte einen großen Zeitraum für das Unterrichten dieser Thematik bereitstellen können, sind wir auf Anregung einiger Lehrkräfte dazu übergegangen, Module zu entwerfen, die flexibler einsetzbar sind.“ Durch die modulare Aufbereitung lassen sich die Inhalte und der Umfang der Einheiten in Hinblick auf die Lerngruppe und den Zeitplan variieren und unabhängig voneinander bearbeiten.
Unterrichtsmodule sind unabhängig einsetzbar
Wie sinnvoll das ist, zeigt sich am Beispiel der Briefkorrespondenz zwischen dem Berliner Musiker Siegbert Steinfeld und dem Vatikan. Zunächst lesen die Schülerinnen und Schüler ein Bittschreiben. Auf der Grundlage des Briefes erarbeiten sie das Anliegen und die biografischen Daten Siegbert Steinfelds. Im zweiten Modul analysieren die Jugendlichen wichtige Merkmale der NS-Ideologie und ordnen die Notlage Steinfelds in diesen Kontext ein. Im Anschluss regen Impulsfragen zu Diskussionen über die Motivation des Bittstellers, die eigenen Eindrücke und Emotionen an.
Im dritten und vierten Modul beschäftigen sich die Schülerinnen und Schüler mit der Flucht und der Profession Steinfelds. Dabei stehen die Bedingungen, die Fluchtroute und die Bedeutung der Musik für Steinfeld und für eine Erinnerungskultur im Mittelpunkt. Steinfelds Weg von Berlin bis Rom ist als digitaler Zahlenstrahl angelegt.
Welche Rolle spielte der Papst?
Schließlich geht es im fünften und sechsten Modul um die Rolle der Kirche und des Papstes. Die Schülerinnen und Schüler analysieren seine Weihnachtsansprache auf sprachliche Besonderheiten und erörtern die Wirkungen. Sie setzen sich mit dem Handeln des Papstes auseinander und beziehen Stellung. Sie untersuchen auch weitere Bittschreiben und wenden ihre Erkenntnisse aus dem bisher Erarbeiteten an. Ziel ist die Entwicklung eines Radiofeatures. Diskutiert werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede und die sich daraus ergebenden Fragen.
Im siebten und letzten Modul des Unterrichtsmaterials zu Siegbert Steinfeld bewerten die Jugendlichen die Tragweite des Projekts „Asking the Pope for Help“, diskutieren die Wirkung der Bittbriefe und erläutern das Potential in Bezug auf die Erinnerungskultur und Antisemitismus-Prävention.
Geschichtsunterricht am konkreten Beispiel
Ähnlich wie das Unterrichtsbeispiel über Siegbert Steinfeld sind auch andere Bittbriefe und deren Schicksale der Verfasser aufbereitet. Obligatorische Module, welche die Erarbeitung des jeweiligen Bittschreibens in den Fokus stellen, werden durch flexibel einsetzbare Module unterschiedlichster Schwerpunkte und mögliche Verlaufspläne ergänzt. Recherchehinweise und unterschiedliche Materialien ergänzen die Inhalte. Der Großteil des Materials ist als Kopiervorlage nutzbar, kann heruntergeladen oder analog eingesetzt werden.
Evaluation des Materials mit Lehrpersonen
Im Rahmen des Projektes wurde das Unterrichtsmaterial evaluiert. „In Zusammenarbeit mit einer Evaluationsgruppe von 12 Lehrkräften haben wir Rückmeldungen zum Material einholen und auf dieser Basis Überarbeitungen durchführen können“, sagt Alissa Geisler. „Auch Einschätzungen von beteiligten Schülerinnen und Schülern haben uns im Rahmen einer Online-Befragung erreicht.“ Auf diesem Wege habe sich dargestellt, dass das Material vor allem ab der Klasse 10 gut einsetzbar sei, da sich an das Vorwissen aus dem Geschichtsunterricht anknüpfen lasse, so Alissa Geisler.
Positiv hervorgehoben wurde laut Alissa Geisler vor allem der Zugang über die Egodokumente der jüdischen Menschen. Indem die Schülerinnen und Schüler die Briefe als Quellen nutzten, aus denen die Wahrnehmung der Verfasserinnen und Verfasser in dem damaligen politischen Umfeld zum Ausdruck kamen, sahen die Lehrkräfte darin ein Alternative zu der üblichen Herangehensweise, so Alissa Geisler. Besonders ertragreich wurden die Unterrichtsstunden empfunden, in denen die Jugendlichen konkret mit den Briefen arbeiten konnten.
Online-Befragungen: Wie erlebten die Jugendlichen den Unterricht?
Und auch die Schülerinnen und Schüler wurden um ihre Meinung zum Unterrichtsmaterial gebeten. „In den Online-Befragungen schätzen die Jugendlichen vor allem den Abwechslungsreichtum des Materials“, berichtet Alissa Geisler. „In den Aussagen wurde aber auch deutlich, dass einige Texte vor allem sprachlich zu anspruchsvoll sind, weshalb wir uns in dieser Hinsicht um verschiedene Formen der Vereinfachung, wie beispielsweise in Form von Erläuterungen und Kürzungen, bemühen.“
(ck/Quelle: Universität Münster/Alissa Geisler)
Rund 15.000 jüdische Menschen aus ganz Europa baten während des NS-Regimes Papst Pius XII. und den Vatikan um Hilfe. Jeder einzelne Brief erzählt aus der Ich-Perspektive die Geschichte eines einzigartigen Menschen, emotional nahegehend. Menschen, deren Leben und Andenken die Nationalsozialisten auslöschen wollten, erhalten wieder eine Stimme und ein unverwechselbares Gesicht.
Diese Briefe waren bisher unbekannt. Sie wurden in den Akten aus dem Pontifikat Pius’ XII. (1939-1958) in den vatikanischen Archiven („Geheimarchiven“) entdeckt, die erst seit dem 2. März 2020 der Forschung zugänglich sind. Sie bilden einen in dieser Dichte einmaligen Bestand von Egodokumenten jüdischer Opfer des Holocaust.
Die wesentlichen Ziele des Projekts:
- Auffindung und wissenschaftliche Erschließung der in den unterschiedlichen vatikanischen Archiven verstreuten Bittschreiben und der dazu gehörenden einschlägigen Quellen, Rekonstruktion der weiteren Schicksale der hier vorkommenden jüdischen NS-Opfer auf der Basis der vatikanischen Quellen sowie nationaler wie internationaler Online-Quellen und Publikation der Ergebnisse im Rahmen einer kritischen digitalen Edition.
- Kontinuierliche, umfassende Wissenschaftskommunikation und „didaktisch“ aufbereitete exemplarische Wissensvermittlung auf dem gesamten Feld der politischen Bildung für verschiedene Zielgruppen im Sinn einer Anti-Antisemitismuserziehung – vom schulischen Unterricht bis zur gesamtgesellschaftlichen politischen Bildung.
Das modular aufgebaute Lernangebot ist hier erhältlich.
(Quelle: Universität Münster)
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