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Ein Seismograf im Schulalltag

Nachrichten | 29.06.2023

Firmung in der Schule, Begleitung in persönlichen Krisen, Seelenwellness-Aktionen an der Autobahn und eine Spickzettel-Ausstellung: Johannes Gröger hat in seinen 25 Jahren als Schulseelsorger eine Menge erlebt. Was genau, das hat er im vergangenen Jahr in einem Buch aufgeschrieben. Im Interview erzählt er, warum ihn seine Schülerinnen und Schüler immer wieder überraschen – und ob er sich heute wieder für seinen Beruf entscheiden würde.

 

Frage: Herr Gröger, Sie haben im vergangenen Jahr ein Buch über ihre 25-jährige Tätigkeit als Schulseelsorger am Berufskolleg St. Michael in Ahlen veröffentlicht. Wie ist die Idee dazu entstanden?

Johannes Gröger: In meinem Buch habe ich aufgeschrieben, was Schulseelsorge ganz konkret an einer Schule bewirken kann. Ich hatte schon lange die Idee, die vielen alltäglichen und auch außergewöhnlichen Situationen und Begegnungen festzuhalten, um diese ermutigenden Erfahrungen an Interessierte weiterzugeben. Mir fehlte nur immer die Zeit – bis im Jahr 2020 das ganze gesellschaftliche Leben durch die Corona-Pandemie herunterfahren wurde. In dieser Zeit der Ruhe und der Selbstreflexion ist dann dieses Buch entstanden.

Die Veröffentlichung fällt in eine Zeit hinein, in der die Kirche gut beraten ist, dem Vertrauensverlust aufgrund des Missbrauchsskandals durch große Transparenz zu begegnen. Das Buch nimmt seinen Leser in den Schulalltag und gewährt somit einen Blick in den Bereich jener kategorialen Seelsorge, dem zunehmend eine zentrale Rolle zukommt: der Schulseelsorge.

Frage: Sie blicken auf viele Jahre als Schulseelsorger zurück. Wie hat sich Ihre Aufgabe im Laufe der Zeit verändert?

Gröger: Zuerst einmal muss man festhalten, dass sich die Schule im Laufe meiner 25-jährigen Berufslaufbahn insgesamt verändert hat. In der 1990er Jahren wurde im Zugehen auf eine bildungspolitisch eingeforderte Stärkung der Eigenverantwortung der Einzelschule die Erstellung eines Schulprogramms eingefordert, worin ihr jeweiliges Leitbild konkretisiert wird. Ab 2006 folgte die sogenannte Qualitätsanalyse, welche die Schulen intensiv auf den Prüfstand gestellt hat. Beides – die Entwicklung des Schulprogramms mit eigenem Leitbild und die Qualitätsanalyse – hat zweifelsohne zur Stärkung der Schulseelsorge an Schulen in kirchlicher Trägerschaft beigetragen. Denn sie wurde als wesentliches Element innerhalb der Eigenprägung der Katholischen Schulen wahrgenommen. Das hat den Blickwinkel auf das schulseelsorgerische Angebot verändert.

Dadurch, dass die Schulseelsorge stark als Bestandteil der Eigenprägung gesehen wird, läuft sie aber auch Gefahr, strukturell normiert zu werden. Im Rückblick auf meine bisherige Dienstzeit würde ich sagen, dass bestimmte Markenkennzeichen der Schulseelsorge richtig und gut sind. Es ist aber auch wichtig, offen zu sein und genau hinzuhören, was die Schülerinnen und Schüler, die Lehrkräfte und auch das nicht lehrende Personal gerade benötigen. Genau das meine ich auch mit dem Begriff der „hörenden Schulseelsorge“. Aufgrund der Wahrnehmung dessen, was die Menschen im Schulalltag umtreibt, kann ich die richtigen Angebote machen und versuchen Antworten auf bestehende Fragen zu finden. Auch wenn manchmal Fragen gestellt werden, mit denen man überhaupt nicht rechnet und die einem vielleicht selbst den Boden unter den Füßen wegziehen.

 

© Ann-Christin Ladermann / Bistum Münster

 

Zur Person:

Johannes Gröger (* 1960 in Münster) ist seit 1993 als Lehrer und seit 1996 zugleich als Schulseelsorger am bischöflichen Berufskolleg St. Michael in Ahlen tätig. Im Jahr 2006 wurde er zum Ständigen Diakon mit Zivilberuf geweiht. Darüber hinaus war Gröger von 2010 bis 2016 als Religionslehrer im Mentorat für Lehramtsstudierende der Katholischen Religionslehre an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster tätig.

 

 

Frage: Was sind das für Fragen?

Gröger: Vor knapp 20 Jahren haben Schülerinnen und Schüler mich zum Beispiel gefragt, ob ich in der Schule einen Firmkurs anbieten könnte. Das hat mich damals gerührt und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen soll. Wir haben dann einen gemeinsamen Weg gefunden. Seitdem habe ich viele junge Menschen auf den Empfang des Sakraments der Firmung an unserer Schule vorbereitet. Es scheint, als wenn die Corona-Pandemie den Prozess der Entfremdung der jungen Menschen im Hinblick auf ihre Ortsgemeinde noch einmal verstärkt und zu einer stärkeren Anfrage bezüglich der Firmung an der Schule geführt hat.

Da für viele Schülerinnen und Schüler die Ortsgemeinde keine Bezugsgröße mehr ist, generieren konfessionelle Schulen zunehmend zu Orten, an denen sie Menschen treffen, die für den Glauben ihr Gesicht hergeben. Sie können Orte sein, an denen ansatzweise erfahrbar wird, was es bedeutet, in der heutigen Zeit Christ zu sein. Schule als Ort der kategorialen Seelsorge gerät dadurch immer mehr in den Blickfang.

Frage: 25 Jahre als Schulseelsorger sind eine lange Zeit: Gibt es Situationen oder Ereignisse, die ihnen in Erinnerung geblieben sind?

Gröger: Ich habe viele Situationen aufgeschrieben, die ich mit gutem Gewissen an die Öffentlichkeit geben kann: Die Schulfirmung, eine Seelenwellness-Aktion an der Autobahn, Tage religiöser Orientierung – die Liste ist lang. Es gibt im schulpastoralen Alltag aber auch ergreifende Situationen, über die ich nicht so offen und vor allem nicht im Detail sprechen kann. Wenn ich etwa Schülerinnen und Schüler in Krisensituationen begleite, sei es im Kontext von Essstörungen, medizinischen Notlagen oder im Umgang mit Tod und Trauer. All das gehört zur Realität in der Schulseelsorge.

Ich habe aber auch viele schöne Erlebnisse im Kopf. Es gab zum Beispiel einen Bibelmarathon, bei dem Schülerinnen und Schüler 24 Stunden am Stück in unserer Schulkapelle aus der Heiligen Schrift vorgelesen haben. Das muss man sich mal vorstellen: Da sind junge Menschen nachts mit dem Auto zur Schule gefahren, um dort aus der Bibel zu lesen. Manchmal bin ich sehr überrascht, dass junge Menschen daran Interesse haben und aus eigener Initiative heraus solche Aktionen auf die Beine stellen.

Frage: Vor einigen Jahren haben Sie mit einer sogenannten „Spickzettel-Ausstellung“ sogar überregional für Schlagzeilen gesorgt. Worum ging es dabei?

Gröger: Vor Prüfungssituationen stehen Schülerinnen und Schüler immer wieder vor der Frage: Soll ich einen Spickzettel benutzen oder nicht? Und es gehört auch zum Schulalltag, dass ein solcher Betrug manchmal auffliegt. Das ist für alle Beteiligten eine unangenehme Situation, weil es ein Bruch im Vertrauensverhältnis von Lehrerkraft und Lernendem ist, der Auswirkungen auf das Miteinander in der Schulgemeinschaft haben kann. Und genau das interessiert mich als Schulseelsorger daran.

Irgendwann habe ich mich entschlossen, meine über die Jahre eingesammelten Spickzettel in Form einer Ausstellung zu kuratieren und allen Menschen an unserer Schule zugänglich zu machen. Die Ausstellung diente quasi als „Türöffner“, um mit den Schülerinnen und Schüler über ein Thema in den Austausch zu kommen, was sonst im Schulalltag eher tabuisiert ist. Dabei hat mich immer wieder beeindruckt, dass Schüler ein sehr genaues Gespür dafür haben, was richtig und was falsch ist. Wie man in meinem Buch nachlesen kann, ist die Ausstellung dann noch an weitere Orte gewandert und hat das Interesse der Presse geweckt.

Frage: Sie haben bereits über die Schule als Ort des gelebten Glaubens gesprochen. Welche Bedeutung kann dies im Kontext von Pastoralen Räumen haben?

Gröger: Im Religionsunterricht – ich bin auch Religionslehrer – bitte ich die Schülerinnen und Schüler manchmal die vier Grundfunktionen von Kirche im Hinblick auf ihre Ortsgemeinde aufzuschreiben. Meist schauen die Jugendlichen dann betroffen auf ihre Tische, weil sie überhaupt nicht wissen, was sie dazu sagen sollen. Viele wissen gar nicht mehr, zu welcher Gemeinde sie gehören. Zum einen, weil sie seit der Erstkommunion keinen Kontakt mehr mit Kirche hatten. Und zum anderen, weil in der Zwischenzeit Gemeindefusionen stattgefunden haben, was zu veränderten Strukturen geführt hat. Auch unter den Gleichaltrigen gibt es oft nur noch wenige Personen, die eine Verbindung zur Kirche haben.

Dieser Prozess der „Entkirchlichung“ droht durch die Schaffung von sogenannten Pastoralen Räumen noch einmal verstärkt zu werden. Allein im Bistum Münster könnten so in den nächsten Jahren aus den jetzigen 200 Pfarreien etwa 40 bis 50 derartiger Pastorale Räume entstehen. Droht dadurch nicht die Gefahr einer weiteren Anonymität?

Wie jede pastorale Arbeit so lebt auch Schulseelsorge davon, dass Menschen miteinander in Beziehung treten. Wer aus dem Geheimnis der Begegnung mit dem Gott der Liebe lebt, wird diese als Angebot in die Gemeinschaft mit einbringen wollen. Es geht somit um das Evangelium als Frohe Botschaft, um die Frage, wie Menschen ihren Weg mit dem Gott der Liebe gehen können, gehen lernen, um wachsen zu können. In der Schule haben die Jugendlichen die Möglichkeit, mit schulpastoralen Mitarbeitern wie mir in Kontakt zu kommen und ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, sich auf eine „Weggemeinschaft“ einzulassen, wenn sie denn möchten. Pastorale Arbeit funktioniert immer über die Beziehungsebene. Im Schulalltag eröffnet sich so ein Lebensraum, der dank seiner Vertrautheit eine ideale Grundvoraussetzung dafür bietet, dass sich Schülerinnen und Schüler für ihre Lebenserfahrungen öffnen, um diese in Zusammenhang mit religiösen Fragen zu reflektieren. Daher glaube ich, dass besonders die kirchlichen Schulen zukünftig eine große Rolle für die Kirche spielen werden.

 

© JuanCi Studio - stock.adobe.com

 

Frage: Findet das an staatlichen Schulen auch statt, zum Beispiel im Religionsunterricht?

Gröger: Im Bistum Münster gibt es auch an staatlichen Schulen Schulseelsorger, die vom Bistum finanziert werden. Und der Religionsunterricht spielt auch eine Rolle. An den kirchlichen Schulen hat der religiöse Aspekt insgesamt aber eine ganz besondere Bedeutung. Die christliche Grundhaltung zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte unterrichtliche und erzieherische Handeln. Der Lernende steht im Fokus und es wird dafür Sorge getragen, dass kein junger Mensch verloren geht. Die Schulseelsorge leistet einen großen Beitrag, dass das Leitbild auch wirklich gelebt wird.

Frage: Die Kirche befindet sich aktuell in einer Krise. Ist das auch ein Thema für Ihre Schülerinnen und Schüler?

Gröger: Es gibt heute einen sehr kritischen Blick auf die Vergangenheit und Gegenwart kirchlicher Institutionen, dabei geht es immer wieder um die zentrale Frage der Glaubwürdigkeit. Wenn Schulseelsorge sich als „hörende Schulseelsorge“ versteht, dann wird der Schulseelsorger schnell feststellen, mit welchen Anfragen die Schülerinnen und Schüler in dieser Krisensituation an uns herantreten. Dazu gehört die Wahrnehmung der Realität, die heutzutage eine sehr heterogene und diverse ist. Die Frage nach Diversität, Geschlechtergerechtigkeit und Machtabgabe in der Kirche beschäftigt die Schüler. Wo Christen mit ihren unterschiedlichen Wirklichkeiten und Anfragen nach Antworten suchen, da ist die Offenheit ganz entscheidend. Darin liegen viele Chancen, die wir auch zukünftig wahrnehmen können. Denn die Realität, in der wir leben ist bunt, sie ist von Gott gewollt – das macht unseren Alltag aus.

Frage: Eine Reaktion auf die Krise der Kirche ist in Deutschland der Synodale Weg. Wurde der Bereich der Schulseelsorge in diesem Reformprozess bisher ihrer Meinung nach ausreichend mitbedacht?

Gröger: Der Synodale Weg ist bei den Jugendlichen an unserer Schule durchaus ein Thema. Das hat mich sehr erstaunt. Wenn wir im Religionsunterricht darüber ins Gespräch kommen, wissen die Schüler gut Bescheid. Sie legen mit großer Akribie den Finger in die Wunde und suchen auch in diesem Bereich nach Antworten.

Von dem, was ich bisher wahrgenommen habe, wird die Schulseelsorge im Rahmen des Synodalen Wegs nicht stark berücksichtigt. Ich vermisse Personen, die für die Sache brennen, die von der Schulseelsorge berührt und begeistert sind. Die in der Lage sind, die große Chance, die in diesem Bereich für die gesamte Kirche liegt, in derartige Prozesse mithineinzubringen.

Frage: Sie sind nicht nur als Schulseelsorger tätig, sie sind auch Religionslehrer. Wie nehmen Sie diese Doppelrolle wahr?

Gröger: Ich fange mal anders an: Wir haben einen großen Anstieg an Kirchenaustritten. Damit gehen auf Dauer die finanziellen Ressourcen in allen Bistümern zurück. Weiterhin stellen wir fest, dass wir immer weniger Menschen finden, die sich für Berufe der pastoralen Mitarbeit interessieren. Damit drängt sich für mich die Frage auf, wer in Zukunft noch als Vertreter der Kirche in den Schulen präsent sein wird. Mit den Religionslehrkräften haben wir Menschen, die weiterhin mit den Jugendlichen in Kontakt stehen. Im Bistum Münster zum Beispiel können sich (Religions-)Lehrerinnen und -lehrer in Pastoralkursen für Aufgaben in der Schulseelsorge ausbilden lassen. Und ich glaube, das ist ein sehr lohnender Weg.

Ich habe die Dopplung, sowohl als Religionslehrer als auch als Schulseelsorger tätig zu sein, immer als bereichernd empfunden. Im Schulalltag nehme ich mich als Seismograf für die Stimmungen und Bedarfe innerhalb der Schulgemeinschaft wahr. Ich höre genau hin, was die Menschen um mich herum beschäftigt und kann daraus dann die passenden Angebote im Schulalltag platzieren.

Frage: Sie haben den Begriff der „hörenden Schulseelsorge“ geprägt, den sie auch bereits angesprochen haben. Können Sie ihn genauer erklären?

Gröger: Wir leben heute in sehr unruhigen Zeiten. Auch der normale Schulalltag ist von Hektik geprägt. Gerade in diesem Kontext ist es wichtig, dass es Menschen gibt, die mit offenen Ohren unterwegs sind. Menschen, die auch die Dinge wahrnehmen, die zwischen den Sätzen ausgesprochen werden. Nur so kann ich erfahren was die Menschen bewegt, was ihre Sorgen, Ängste, Freuden, Sehnsüchte und Hoffnungen sind. Dabei gilt es der latenten Gefahr zu begegnen, bereits beim Hören dem Versuch einer Antwort zu erliegen oder oft bleiben wir sogar direkt bei uns selbst und erzählen, wenn der andere ausgeredet hat, von uns. Ein wirkliches Hören macht mich aufmerksam für das, was nicht direkt ausgesprochen wird, was aber innerlich mitschwingt.

Frage: Wenn Sie nochmal am Anfang Ihres Berufslebens wären, würden Sie wieder Schulseelsorger werden wollen?

Gröger: Auf jeden Fall! Ich würde mich neben meiner normalen Tätigkeit als Lehrer immer wieder für diesen speziellen Bereich im Schulalltag ausbilden lassen, weil es ein so herausforderndes und so vielfältiges Betätigungsfeld ist, in dem sich jeder nach seinen eigenen Fähigkeiten einbringen kann. Wenn man Interesse daran hat, junge Menschen zu begleiten, sie zu ermutigen und zu bestärken, dann ist das ein absoluter Traumjob.

 

Das Interview führte Maike Müller

 

Das Buch:

„Schulseelsorge bietet viele Chancen“, heißt es im Klappentext von „Hören – ermutigen – Leben gestalten. Schulseelsorge im Wandel der Zeit“. Welche genau das sind, beschreibt Johannes Gröger detailliert in seinem 2022 im dialogverlag erschienenen Buch. Auf insgesamt 234 Seiten erzählt der Schulseelsorger und Religionslehrer von Tagen religiöser Orientierung, Seelenwellness-Aktionen an der Autobahn, seinem Firmkurs in der Schule und dem Umgang mit persönlichen Krisen. Insgesamt gibt das Buch einen Einblick, was Schulseelsorger an einer konkreten Schule – in diesem Fall dem Berufskolleg St. Michael in Ahlen – bewirken kann.

 

 

 

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