Antisemitismus ist kein historisches Phänomen, sondern brandaktuell. Auch an Schulen. Der Hass auf Juden ist zudem nicht auf eine besondere Bevölkerungsschicht in Deutschland beschränkt – sagt die Bildungsreferentin und Leiterin des Bereichs Pädagogik der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, Nicole Broder. Im Interview mit dem Bildungsportal News4teachers erklärt sie, wie sich Antisemitismus in der schulischen Praxis zeigt – und was Lehrkräfte tun können, um Schülerinnen und Schüler aufzuklären und dem Ungeist entgegenzuwirken.
News4teachers: Wie zeigt sich Antisemitismus heutzutage bei Kindern und Jugendlichen?
Nicole Broder: Eine der gängigsten Ausdrucksformen von Antisemitismus ist „Du Jude“ als Schimpfwort unter Jugendlichen. In der Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen zeigt sich aber auch die Reproduktion antisemitischer Stereotype, wie z. B. dass alle Juden*Jüdinnen reich seien, sie in Deutschland keine Steuern bezahlen müssten oder Juden*Jüdinnen einen zu großen Einfluss auf Ökonomie und Politik hätten. Aktuell zeigt sich Antisemitismus allerdings auch in einem Verschwörungsdenken und im Hinblick auf den Nahostkonflikt und wie Kinder- und Jugendliche diesen wahrnehmen.
Demokratiekosmos Schule
Hier gibt es Materialien und Informationen zum Thema Antisemitismus: Das Projekt „Demokratiekosmos Schule“ (DEKOS) soll Lehrkräfte im wirksamen Umgang mit antidemokratischen Situationen unterstützen – es zeigt dabei auch auf, wie dem Phänomen Antisemitimus in der pädagogischen Praxis begegnet werden kann.
Mit unterschiedlichen Formaten erhalten Lehrkräfte anwendungsorientiertes Know-how. DEKOS zeigt Wege auf, wie sie sich diesen Herausforderungen stellen und angemessen handeln können.
DEKOS, ein gemeinsames Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung mit der Bertelsmann Stiftung, wendet sich an Schulleitungen, Lehrer/innen und Schulsozialarbeiter/innen. Adressiert werden die siebte bis zur 13. Jahrgangsstufe. Da Diskriminierungen in allen Schulsituationen auftreten, betrifft das Thema alle Unterrichtsfächer. DEKOS ist auch geeignet, in Aus- und Fortbildungsbereichen eingesetzt zu werden.
Hier geht es zu den kostenlosen Materialien
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News4teachers: Wie unterscheidet sich der aktuelle Antisemitismus bei Kindern und Jugendlichen von demjenigen aus früheren Jahrzehnten?
Nicole Broder: Antisemitische Stereotype und Schimpfwörter gehören schon lange zum antisemitischen Repertoire, das auch junge Menschen reproduzieren. Aktuelle Formen von Antisemitismus zeigen sich vor allem in einer verkürzten Israelkritik bzw. einer starken Solidarisierung mit der Situation der Palästinenser*innen, die bis zu einer Abwertung von Juden und Jüdinnen reicht oder das Existenzrecht Israels in Frage stellt. Aber auch in globalisierungs- bzw. kapitalismuskritischen Diskursen werden antisemitische Bilder wiedergegeben. Ganz aktuelle Entwicklungen zeigen die Konjunktur von Verschwörungserzählungen, die im Zuge der Corona-Pandemie kursieren und auch in sozialen Netzwerken von Jugendlichen geteilt und in die Kommunikation getragen werden.
News4teachers: In welchen gesellschaftlichen Schichten kommt Antisemitismus am häufigsten vor und warum gerade dort?
Nicole Broder: Auch bei Jugendlichen lässt sich feststellen, dass Antisemitismus kein spezifisches Problem bestimmter Gruppen oder gesellschaftlicher Schichten ist. Antisemitismus ist vielmehr eine Form der Welterklärung, die junge Menschen mehr oder weniger stark zur Orientierung nutzen. Damit ist Antisemitismus ganz klar auch ein Problem der sogenannten gesellschaftlichen Mitte. Man kann vielmehr konstatieren, dass unterschiedliche Formen von Antisemitismus von den verschiedenen Gruppen reproduziert werden. Eine klare Schnittmenge aller Formen von Antisemitismus ergibt sich aber mit den menschenverachtenden Diskursen rechtspopulistischer und rechtsextremer Gruppen.
„Lehrkräfte sollten selbst ein hohes Maß an Verständnis von demokratischen Werten mitbringen und auch erkennen können, wann diese unter Druck sind“
News4teachers: Was müssen Lehrkräfte mitbringen, um in der Schule für die Demokratie eintreten zu können?
Nicole Broder: Lehrkräfte sollten selbst ein hohes Maß an Verständnis von demokratischen Werten mitbringen und auch erkennen können, wann diese unter Druck sind. Das bedeutet, dass sie für alle Formen von Ungleichwertigkeitsideologien sensibilisiert sein sollten, um in einem Konfliktfall auch reagieren zu können. Oftmals ist es leider so, dass Lehrkräfte nur bei bestimmten Aussagen reagieren. Insbesondere Aussagen, die explizit antisemitisch sind, werden von Lehrkräften erkannt und sie reagieren sehr schnell, fast reflexartig. Sexistische oder rassistische Aussagen werden oftmals jedoch nicht ernst genommen bzw. der rassistische Gehalt einer Aussage nicht erkannt. Die Schüler*innen merken jedoch, in welchen Kontexten die Lehrkraft reagiert und in welchen nicht sanktioniert wird. Dies beeinflusst das Miteinander in der Klasse und macht das Eintreten für Demokratie unglaubwürdig.
News4teachers: Mit welchem Informationsbedarf kommen Lehrkräfte zu Ihnen?
Nicole Broder: Lehrkräfte äußern insbesondere Bedarf im Hinblick auf eine Einordnung von Kritik am Staate Israel und den Nahostkonflikt. Aber auch die Frage nach dem Umgang mit Verschwörungsideologien und der darin enthaltene Antisemitismus sind aktuell sehr relevant.
News4teachers: Welche antisemitisch geprägten Situationen erleben Lehrkräfte an Schulen in Deutschland?
Nicole Broder: Aus unserer Einschätzung heraus sehen wir Lehrkräfte vor allem mit einer Verharmlosung des Holocaust konfrontiert oder Aussagen, die den Holocaust relativieren – auch im Hinblick auf eine Kritik an israelischer Politik. In ähnlichem Maße haben sie auch mit antisemitischen Aussagen in Bezug auf den Nahostkonflikt zu tun. Aktuell erleben Lehrkräfte aber vor allem auch einen starken Anstieg von Verschwörungsdenken und der Annahme, mächtige politisch oder ökonomische Eliten hätten einen starken Einfluss auf die Politik und das globale Geschehen.
News4teachers: Mit welchen pädagogischen Konzepten können Lehrkräfte in Konfliktsituationen auf antidemokratische Tendenzen reagieren?
Nicole Broder: Ein grundlegendes Ziel von Bildungskonzepten sollte darin bestehen, eine diskriminierungskritische Haltung zu stärken. Das beinhaltet, Diskriminierung als gesamtgesellschaftliches Problem erkennen zu können, für eigene Verwobenheiten sensibilisiert zu sein und Verantwortung dafür zu übernehmen, diskriminierenden Einstellungen und Handlungen aktiv entgegenzuwirken.
Basis dieser Haltung bildet das in den Menschenrechten verankerte Gleichwertigkeitsprinzip: Alle Menschen sind qua Geburt gleich viel wert. Eine Ungleichbehandlung und Benachteiligung auf Basis von Merkmalen wie Herkunft, Aussehen, Religion, Geschlecht, sexueller Identität, Behinderung, sozialem Status und Alter widerspricht diesem Prinzip fundamental und kann daher auf dessen Basis problematisiert und skandalisiert werden.
Ideologien der Ungleichwertigkeit und die damit gerechtfertigten Diskriminierungsstrukturen sind komplexe und vielschichtige gesellschaftliche Phänomene. Ein wichtiges Ziel der diskriminierungskritischen Bildungsarbeit besteht darin, diese Komplexität sowie Multiperspektivität sichtbar zu machen. Es sollte ein Raum geschaffen werden, in dem unterschiedliche Perspektiven anerkannt und einander widersprechende Meinungen ausgehalten werden können. Statt einfacher Antworten und einer scheinbar klaren Einordnung in „richtig“ und „falsch“ sollten die Teilnehmenden erleben, dass es eben nicht die eine eindeutige Erklärung und Lösung für komplexe Probleme gibt. Kontroversen und Spannungsfelder werden dadurch sicht- und besprechbar.
„Ich denke nicht, dass Antisemitismus im Geschichtsunterricht wirklich behandelt wird. Antisemitismus, dessen historische Kontinuitäten und auch die Bezüge zur Gegenwart finden oft nur am Rande statt“
Die Perspektiven von Betroffenen sollten in den Bildungsangeboten besonders im Fokus stehen. So wird mit der Frage, wie Diskriminierung wirkt und welche Konsequenzen sie mit sich bringt, ein Perspektivwechsel hin zu den Betroffenen einer jeweiligen Diskriminierungsform vollzogen. So kann Diskriminierung auch in Situationen erkannt und problematisiert werden, in denen diese von der ausübenden Person nicht beabsichtigt war. Der Fokus auf widerständige Praxen und die Selbstorganisation von Betroffenen macht ihre Handlungsfähigkeit sichtbar und widerspricht Darstellungen derselben als „hilflose Opfer“. Multiperspektivität heißt in diesem Kontext, Betroffenenperspektiven zu thematisieren, ohne sie zu homogenisieren – also auch innerhalb der Betroffenenperspektiven die Vielfalt von Haltungen und Erfahrungen sichtbar zu machen. Erfahrungen von Multiperspektivität können verunsichernd sein, aber auch ungemein erkenntnisreich – wenn die Offenheit und die Bereitschaft bestehen, sich von anderen Perspektiven irritieren und anregen zu lassen. Ob dies gelingt, hängt mit davon ab, wie der pädagogische Raum gestaltet ist.
News4teachers: Das Thema Antisemitismus wird im Geschichtsunterricht und auch in anderen Schulfächern früh und regelmäßig behandelt. Wie kann man diese Thematik den Jugendlichen auf attraktive Art und Weise so vermitteln, dass keine „Übersättigung“ aufkommt?
Nicole Broder: Ich denke nicht, dass Antisemitismus im Geschichtsunterricht wirklich behandelt wird. Es werden die Zeit des Nationalsozialismus und auch der Holocaust thematisiert. Antisemitismus, dessen historische Kontinuitäten und auch die Bezüge zur Gegenwart finden oft nur am Rande statt. Genau dies sollte allerdings bei der Vermittlung von Antisemitismus stattfinden: Den Jugendlichen sollte deutlich werden, dass Antisemitismus mit ihnen und ihrer Lebenswelt heute zu tun hat und weiterhin präsent ist. Außerschulische Lernangebote verfolgen häufig genau diesen Ansatz und bilden eine attraktive Abwechslung zum schulischen Alltag.
News4teachers: Immer wieder wird darüber diskutiert, ob der Besuch einer Gedenkstätte für Schülerinnen und Schüler verpflichtend sein soll – wie stehen Sie dazu?
Nicole Broder: Generell stehen wir Gedenkstättenfahrten natürlich positiv gegenüber. Allerdings ist es nicht zielführend, wenn sie als Mittel gesehen werden, aktuellem Antisemitismus zu begegnen. Dazu brauchen Jugendliche Angebote, die an der Lebenswelt der jungen Menschen heute orientiert sind und sie befähigen, Antisemitismus in ihrem Alltag zu erkennen und ihm entgegenzutreten. In Gedenkstätten lernen Jugendliche vor allem historische Zusammenhänge und die Spezifika des jeweiligen Ortes kennen. Gedenkstättenfahrten sollten außerdem pädagogisch gut vor- und nachbereitet werden. Das Gespräch mit Zeitzeug*innen kann das historische Verständnis zudem fördern. Darüber hinaus empfehlen wir Erinnerungskultur breit zu denken und nicht nur auf die Gruppe von Juden*Jüdinnen zu beschränken.
News4teachers: Was muss sich Ihrer Meinung nach verändern, damit wir in Zukunft in einer Gesellschaft frei von Antisemitismus leben können?
Nicole Broder: Der Gedanke, in einer Gesellschaft ohne Antisemitismus leben zu können erscheint mir doch eher utopisch. Antisemitismus hat weniger mit individuellen Einstellungen zu tun, denn es ist ein strukturell historisch verankertes Weltbild, das Komplexität reduziert und abstrakte Strukturen personalisiert. So ist es gängiges Muster antisemitischer Verschwörungserzählungen, dass eine mächtige jüdische Elite die Geschicke der Welt lenke. Antisemitismus ist essenzieller Bestandteil rechter und islamistischer Ideologien, geht einher mit geschichtsrevisionistischer Relativierung oder Leugnung der Shoah und gipfelt in antisemitischen Hassverbrechen und Terror. So lässt sich Antisemitismus nur bekämpfen, wenn man die Spezifik des antisemitischen Weltbilds verstanden hat.
Hier geht es zur Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main und ihren Angeboten.
Nina Odenius, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview. Es ist zuerst auf dem Online-Portal News4teachers erschienen und wurde uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
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(mam)