Der Krieg in der Ukraine erschüttert Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Wie geht man mit den Fragen und Sorgen junger Menschen in der Schule um? Worauf muss man dabei achten? Was hilft eigentlich Beten? Und darf ich Spaß haben, wenn andere Leiden? Darüber haben wir mit Benno Kretschmer-Stöhr gesprochen. Er ist Schulseelsorger und Religionslehrer am St.-Benno Gymnasium in Dresden.
Frage: Schulseelsorger und Religionslehrer sind oft die ersten Ansprechpartner in Krisensituationen. Sind Schülerinnen und Schüler nach Ausbruch des Kriegs in der Ukraine auf Sie zugekommen?
Kretschmer-Stöhr: Unsere Schülerinnen und Schüler haben ein recht enges Verhältnis zu ihren Klassenlehrern. Daher sind diese in Ausnahmesituationen meist die ersten Ansprechpartner für sie. In der 5. bis 7. Klasse gibt den Morgenkreis, in dem unter anderem aktuelle Ereignisse wie der Kriegsausbruch in der Ukraine besprochen werden können. In den Klassenstufen 8 bis 10 haben wir ein ähnliches Format. Da die Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit haben, Fragen und Sorgen dort aufzugreifen, kommen die Schüler bei solchen Krisen nicht gleich zu mir.
Ich sehe es aber auch als meine Aufgabe als Schulseelsorger, die Lehrkräfte zu unterstützen, wenn Sie mich danach fragen. Wenn Sie zum Beispiel merken, dass es Redebedarf unter den Schülern gibt und sie unsicher sind, wie sie das auffangen sollen. Zudem bin ich auch selbst Fachlehrer und unterrichte katholische Religion und Gemeinschaftskunde. Während ich als Schulseelsorger die Sorgen der Kinder eher auf der Betroffenheitsebene versuche aufzufangen, steht im Fachunterricht die Sachebene im Vordergrund.
"Die Jüngeren haben einen größeren Abstand zum Kriegsgeschehen und leben mehr im Hier und Jetzt."
Frage: Welche Fragen, Ängste und Sorgen haben die jungen Menschen an Ihrer Schule?
Kretschmer-Stöhr: Das hängt sehr vom Alter der Schülerinnen und Schüler ab. Die Jüngeren haben einen größeren Abstand zum Kriegsgeschehen und leben mehr im Hier und Jetzt. Ob sie sich Sorgen machen oder nicht, hängt von der Stimmung zu Hause und dem Maß der Nachrichten ab, die sie konsumieren dürfen. Die Älteren hingegen sind zwar coronaerprobt, aber mit dem Krieg in der Ukraine fällt eine weitere Sicherheit in ihrem Leben weg - gerade in einer Phase, in der sie ihre Rolle in der Welt suchen. Sie sorgen sich mehr um ihre Zukunft als die jüngeren Kinder. Während der Corona-Pandemie habe ich das anders erlebt.
Frage: Was genau meinen Sie?
Kretschmer-Stöhr: Während der Corona-Pandemie war mein Eindruck, dass Kinder und Jugendliche insgesamt stärker betroffen waren als die Erwachsenen, weil es wahrscheinlich die erste große Unsicherheit war, die sie in ihrem Leben erfahren haben. Zudem war besonders zu Beginn nicht fassbar, was passierte. Das haben die Erwachsenen, damit meine ich die Lehrkräfte und das pädagogische Personal an der Schule, grundsätzlich etwas entspannter gesehen. Jetzt fällt mir auf, dass diejenigen, die noch eigene Eltern mit Nachkriegserfahrungen haben, den Kriegsausbruch in der Ukraine deutlich dramatischer einschätzen als die Kinder. Der Bedarf an Friedensgebeten kam auch eher aus den Reihen der Erwachsenen an unserer Schule.
Frage: Aber der Ukraine-Krieg ist ja doch Thema auf Schulhöfen und im Unterricht. Wie findet man altersgerechte Antworten darauf?
Kretschmer-Stöhr: Darauf würde ich zwei Gegenfragen stellen: Worauf muss ich überhaupt eine Antwort geben? Und wo kann ich nur einen Raum bieten und Fragen einfach zulassen? Ich finde es immer gut, wenn die eigene Betroffenheit geäußert werden darf. Und ich finde auch, dass Schülerinnen und Schüler einen Anspruch darauf haben, Antworten auf bestimmte Fragen zu bekommen. Aber manchmal kann das auch bedeuten zu sagen: Wir wissen gerade alle nicht, was in vier Wochen sein wird. Das muss dann auch nicht unbedingt wie eine Unsicherheit wirken, sondern kann auch Transparenz vermitteln. Da sind Kinder und Jugendliche schon schlau genug, das einordnen zu können.
"Das ist eine andere Ausgangssituation als zu Beginn der Corona-Pandemie"
Frage: Worauf muss man achten, wenn man mit Kindern und Jugendlichen über den Krieg spricht? Unterscheidet sich das Thema von anderen Krisen, bei denen die Schülerinnen und Schüler zu Ihnen kommen?
Kretschmer-Stöhr: Bevor man mit den Kindern spricht, muss man sich den unterschiedlichen Wissensstand bewusst machen. Es ist verlockend, Begriffe wie Nato und Politikernamen wie Selenskyi oder Putin einfach als bekannt vorauszusetzen. Das funktioniert aber vor allem bei den kleineren Kindern nicht. Da haben wir eine andere Ausgangssituation als zu Beginn der Corona-Pandemie zum Beispiel. Da mussten wir alle gemeinsam ein neues Vokabular lernen.
Und eine Sache ist ganz wichtig: Wenn ukrainische Schülerinnen und Schüler in der Klasse sind, sollten sie nicht einfach unvorbereitet auf das Thema angesprochen werden. Da müssen immer auch die Eltern mit ins Boot geholt werden. Die sind ja nochmal ganz anders betroffen. Wenn dann alle Beteiligten bereit sind, etwas dazu zu sagen, ist das gut. Eine Schülerin an unserer Schule war zum Beispiel vor kurzem noch in der Ukraine im Urlaub. Das bringt dann eine andere, eine persönliche Ebene in die Thematik. In besonderer Weise gilt das auch für ukrainische Kinder, die vor dem Krieg flüchten mussten. In diesem Zusammenhang sollte man auch im Blick behalten, ob russische Schüler in der Klasse sind.
"Grundsätzlich darf jeder Lehrer selbst entscheiden, ob er oder sie das Thema aktiv ansprechen möchte"
Frage: Gibt es Hilfsmittel, um mit Kindern und Jugendlichen über den Krieg zu sprechen? Haben Sie Tipps für Lehrkräfte und Eltern?
Kretschmer-Stöhr: Hilfsmittel gibt es ja inzwischen eine ganze Menge. Ob das die Sendung mit der Maus ist oder Angebote der Bundeszentrale für politische Bildung, die vor allem Inhalte altersgerecht formulieren und erklären. Mit diesen Hilfen kann man sich dann auch im Unterricht mal zehn Minuten Zeit nehmen, in denen man gemeinsam versucht zu verstehen, was gerade in der Ukraine passiert. Das ist auch etwas, was die Schülerinnen und Schüler sehr beruhigt. Und gleichzeitig kann man alle auf einen ungefähr gleichen Wissensstand bringen. Um mit den Kindern und Jugendlichen ins Gespräch zu kommen, frage ich manchmal nach, ob und wie sie zu Hause in den Familien über den Krieg sprechen.
Grundsätzlich darf jeder Lehrer selbst entscheiden, ob er oder sie dieses Thema aktiv im Unterricht ansprechen möchte. Aber ich finde es schon wichtig, den Schülern das Gespräch anzubieten, wenn etwas Schlimmes, Großes, Unfassbares passiert ist – auch auf einer persönlichen Ebene. Ob da jetzt der Schulseelsorger oder der Klassenlehrer die erste Ansprechperson ist, ist erstmal egal.
Frage: Sie haben ja bereits das Thema Friedensgebete angesprochen. Welche konkreten Angebote gab es an Ihrer Schule? Und wie wurden sie angenommen?
Kretschmer-Stöhr: Direkt am Montag nach den Ferien, am Rosenmontag, gab es ein Friedensgebet bei uns, wo auch die bereits erwähnte ukrainische Schülerin gesprochen hat. Daran haben von unseren rund 700 Schülerinnen und Schülern etwa 150 teilgenommen. Es war eine ganz schlichte Andacht, etwa 20 Minuten lang. Das habe ich auch bewusst nur „Friedensgebet“ genannt. Seitdem treffen wir uns etwa alle zwei Wochen zum gemeinsamen Gebet mit allen, die möchten. Inzwischen ist die Zahl der Teilnehmenden eher abnehmend, aber ich merke, dass es für manche ein gutes Ventil ist. Also setzen wir die Gebete fort.
"Wenn jemand zu mir als Schulseelsorger kommt, ist Gott nicht sofort das erste Thema"
Frage: Schulseelsorger sind ja nicht einfach nur zusätzliche Vertrauenslehrer, sondern vertreten ja auch eine spirituelle Dimension. Welche Rolle spielt diese, wenn Sie über den Krieg in der Ukraine sprechen?
Kretschmer-Stöhr: Wenn jemand zu mir als Schulseelsorger kommt, ist Gott nicht sofort das erste Thema, sondern eher die Erschütterung in dieser Welt. Bis vor kurzem war es Corona, jetzt ist es der Krieg. Es kommen Fragen wie: Was passiert in dieser Welt? Was ist noch sicher? Wie stark muss ich mich persönlich mit dem Leid in der Welt beschäftigen? Die Erfahrung, dass die eigene Sicherheit in Frage gestellt wird, hat ja im weitesten Sinne auch etwas mit Spiritualität zu tun. Im unterrichtlichen Kontext stehen Fragen nach Gut und Böse im Mittelpunkt. Was ist eigentlich das Böse, das einen Menschen dazu veranlasst, einen Krieg zu beginnen? Welche Macht hat Gott? Die Schülerinnen und Schüler beschäftigen vor allem ethische Fragen: Ist es ethisch verantwortlich, direkt in den Krieg einzugreifen, um Leid zu verhindern?
Es heißt ja, Gott ist der Herr der Geschichte. Aber was bedeutet das eigentlich in Zeiten, die schwer sind? Da lohnt sich ein Blick in die Bibel. Die ist nämlich voll von schlechten Zeiten für die Menschen. Das finde ich ein Stück weit tröstlich. Wir leben in sehr „biblischen Zeiten“. Viele Generationen vor uns waren schon erschüttert von dem, was in dieser Welt passiert. Ihre Fragen und Antworten sind Gott bekannt. Dieser Gedanke kann Angst nehmen.
Frage: Was hilft Beten angesichts von Kriegen und anderen Katastrophen?
Kretschmer-Stöhr: Zum einen ist das Gebet ein Raum für die eigene Ohnmacht und Erschlagenheit, in dem man sich nicht allein fühlt. Wir dürfen Gott unsere Bedrückung, Wut und Hilflosigkeit hinhalten, ohne schon überlegen zu müssen, was wir tun können. Ich darf als Mensch in meinem Gefühlswirrwarr sein und muss nicht direkt alles verstehen und etwas Schlaues sagen.
Das zweite ist: Ich muss nicht wissen, welche Rolle Gott bei den Geschehnissen in der Welt spielt. Aber ich darf ihm mein Leid schildern und Hilfe erbitten. Ich darf meine Hoffnung auf ihn setzen, ohne ihm vorzuschreiben, was er tun soll.
Und drittens: Ich erlebe ein Gefühl von Gemeinschaft in meiner eigenen Zerrissenheit. Das ist eine Kraftquelle, um danach wieder aktiv zu sein und meinen Beitrag leisten zu können. Dieses Angebot, trotz allem Antrieb, aller Motivation, in Gottvertrauen eine Pause zu machen und einen Schritt zurückzutreten – das ist meiner Meinung nach etwas typisch Christliches. Das ist der Kern der Reich-Gottes-Theologie: Tu, was du kannst. Aber denk ja nicht, dass du alles allein schaffst.
"Darf ich Spaß haben, wenn in dieser Welt so viel Leid und Chaos ist"
Frage: In einigen Regionen ist der Ausbruch des Krieges in der Ukraine mit dem Beginn von Karneval bzw. Fasching zusammengefallen. Wie geht man mit dieser Gleichzeitigkeit von Leid und schönen Festen in der Schule um? Anders gefragt: Darf man feiern, wenn andere leiden?
Kretschmer-Stöhr: Darin steckt ja die klassische Frage: Darf ich Spaß haben, wenn in dieser Welt so viel Leid und Chaos ist? Ich habe ganz klar kommuniziert, dass die Schülerinnen und Schüler selbstverständlich Orte haben dürfen, in denen sich freuen und lachen. In denen sie nicht das Gefühl haben, die Probleme der Welt lösen zu müssen. Dieser klare Zuspruch ist gerade für Kinder ganz wichtig. Auf der anderen Seite müssen wir im Fasching aber auch Grenzen ziehen. Ein Junge hatte zum Beispiel eine Spielzeugpistole dabei. Das geht natürlich nicht.
Diese Gegensätzlichkeit von Leid und Freude ist ein Spezifikum christlicher Spiritualität. Wir feiern jeden Gottesdienst mit einem Lob Gottes – trotz allen Leids und trotz dem Bekenntnis unserer Fehler. Ich versuche immer wieder Orte zum Auftanken an der Schule zu schaffen. Denn gerade sind die Akkus vieler Menschen durch die Corona-Pandemie einfach leer. Da ist es wichtig, sich trotz allem auch mal etwas zu gönnen.
Das Interview führte Maike Müller