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"Religionsunterricht lebt von Begegnung"

Nachrichten | 01.06.2021

Ist der Religionsunterricht in der Corona-Krise „systemrelevant“? Wie muss er dafür aussehen? Und kann er auch auf digitalen Wegen gelingen? Über diese Fragen haben wir mit Jens Kuthe, Referent für Religionspädagogik im Bistum Osnabrück, gesprochen. In unserem Interview blickt er zurück auf ein Jahr Schule im Ausnahmezustand, gibt Tipps für gute Tools und erklärt, wie der Religionsunterricht in Niedersachsen zukünftig aussehen wird.

 

Frage: Herr Kuthe, Schule befindet sich jetzt seit über einem Jahr im Krisenmodus. Welchen Stellenwert hat der Religionsunterricht aktuell im Stundenplan?

Jens Kuthe: Da kommen wir direkt zu einer Unterscheidung zwischen katholischen und öffentlichen Schulen. An den kirchlichen Schulen in freier Trägerschaft hat der Religionsunterricht einen sehr sicheren Platz, weil er dort stärker im Grundkonzept der Schulen verankert ist. Dort müssen die Religionslehrkräfte nicht so sehr um die Durchführung bangen. An öffentlichen Schulen kann das durchaus anders sein. Wobei die Fragen der Eltern überall die gleichen sind. Im Sekundarbereich und auch im Primarbereich ist die große Sorge, in den Hauptfächern zurückzubleiben. Dadurch kommen im Moment alle Nebenfächer in Schwierigkeiten - und dazu zählt der Religionsunterricht auf der rein inhaltlichen Ebene. Gleichzeitig bietet er aber Orte für Reflexion über aktuelle Fragen. Überall da, wo diese Rolle anerkannt wird, hat er eine sehr gute Stellung.

An öffentlichen Schulen wird der Religionsunterricht insgesamt ganz anders angefragt und auch hinterfragt als an Schulen in kirchlicher Trägerschaft. An der Ursulaschule, einem Gymnasium in Trägerschaft der Schulstiftung im Bistum Osnabrück, an dem ich unterrichte, gibt es zum Beispiel auch islamischen und jüdischen Religionsunterricht. Er hat also insgesamt einen anderen Stellenwert, als es das Fach an öffentlichen Schulen hat. Das zeigt sich auch an der Interaktion innerhalb des Kollegiums, innerhalb der Schulgemeinschaft mit Blick auf den Religionsunterricht.

Frage: Der Deutsche Katecheten-Verein – für den Sie sich seit vielen Jahren in verschiedenen Funktionen engagieren – hat bereits im vergangenen Jahr die Bedeutung des Religionsunterrichts betont. Ist der Religionsunterricht in der Corona-Krise „systemrelevant“ bzw. lebensrelevant?

Kuthe: Als Religionslehrer würde ich natürlich sofort sagen: Ja (lacht). Und zwar auf verschiedenen Ebenen. Da ist zunächst die inhaltliche Ebene. Wir sehen aktuell in den Nachrichten, überhaupt in gesellschaftlichen Diskursen, wie wichtig das Thema Religion ist. Ein hochbrisantes Beispiel sind die Auseinandersetzungen in Israel und Gaza, die neben politischen und historischen auch eine religiöse Komponente haben. Es ist also gerade sehr relevant religiös gebildet zu sein und inhaltlich über Religion Bescheid zu wissen. Im Sinne unseres Verständnisses von Allgemeinbildung ist der Religionsunterricht also sehr systemrelevant.

Und gleichzeitig macht ihn das noch auf einer anderen Ebene system- und vor allem lebensrelevant. Wir merken an aktuellen Themen wie dem Nahost-Konflikt wie intensiv über Religion dort, wo sie eine Rolle spielt, nur auf der inhaltlichen Ebene gesprochen wird. Dabei geht es auch um biografische Zusammenhänge und ganz existenzielle Fragen, die bis ins Mark hineingehen und Menschen zu Entscheidungen motivieren oder sogar drängen. Ich bin ein großer Verfechter eines bekenntnisorientierten Religionsunterrichts, der SchülerInnen den nötigen Raum gibt, diese Fragen nachzuvollziehen und ein Gespür zu bekommen. Dafür braucht es aber ReligionslererInnen, die einem Bekenntnis, einer Religion angehören. Meine geschätzte islamische Religionskollegin zum Beispiel ist unerlässlich für jede Auseinandersetzung mit dem Thema Islam. Die Relevanz, die der Koran für sie hat, lässt sich nicht durch ein Buch vermitteln. Dafür braucht es Begegnung. Wir Religionslehrerkräfte können zeigen, wie sich unser Bekenntnis in unserem Leben widerspiegelt – und wo es aneckt. SchülerInnen erleben so, dass das eine treibende Kraft im Leben eines Menschen sein kann. Das ist dann relevanter Religionsunterricht jenseits fachwissenschaftlicher Inhalte.

Frage: Was kann der Religionsunterricht aktuell konkret bieten?

Kuthe: Neben den großen Erzählungen und anderen wertvollen Inhalten gibt es momentan sehr spannende, neue Ansätze. Hildegund Keul, Professorin für Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaft an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, forscht gerade intensiv zur Frage nach Vulnerabilität. Corona macht uns allen deutlich, wie verletzlich der Mensch, die Menschheit, aber auch unser Sozial- und Staatengefüge ist. Und wir merken, welche Menschen damit umgehen können und welche nicht. Eine interessante Frage für den Religionsunterricht wäre zum Beispiel, wie aus Vulnerabilität Solidarität und neue Formen von Stärke und Gemeinschaft erwachsen können. Frau Keul sagt z.B., dass die Jünger zu Pfingsten in einem Zustand höchster Verletzlichkeit waren und daraus etwas schöpferisches Neues entstanden ist. Ein hochspannender Ansatz, bei dem man SchülerInnen frühzeitig mit in die Diskussion holen kann.

 

Religionslehrer und Referent Jens Kuthe - © Bistum Osnabrück

 

Dazu mal ein praktisches Beispiel: Ich habe im Unterricht einen lebenslustigen Schüler der Mittelstufe, der in der Schule immer Quatsch gemacht hat. Den erlebe ich in der Videokonferenz nun total konsterniert. Dem fehlt der Kontakt, das sich Austesten. Wenn ich mit diesem Jungen über Verletzlichkeit der Jünger in der Enge Ihres Verstecks am Pfingsttag rede, sind wir sofort ganz tief drin im Thema. Das ist dann ein hochbrisanter Moment. Aber auch einer, wo wir Religionslehrkräfte Situationen aufzeigen können, in denen neue Stärke, Veränderung – theologisch würde ich sagen Neuschöpfung – entstehen kann. Aber nicht mit dem Fingerzeig „Wir haben die Antwort“, sondern indem wir Erfahrungen aufzeigen, in denen etwas erwachsen ist. Religionslehrkräfte sind keine Therapeuten, aber wir können Ideen eröffnen, wir können Geschichten erzählen, wir können Auseinandersetzungen mit Geschichte und Geschichten fördern.

Frage: Während des Distanz- und Wechselunterrichts fiel und fällt der Religionsunterricht an einigen Schulen zeitweise auch komplett weg. Was fehlt, wenn der Religionsunterricht wegfällt?

Kuthe: Im Religionsunterricht können wir Texte, Zusammenhänge und Geschichten anbieten, die weiterwirken. Ich glaube, das fehlt ganz intensiv, wenn der Religionsunterricht wegfällt. Außerdem ist es wichtig, das Thema Religion von seinen Inhalten her weiterhin wachzuhalten und in der Auseinandersetzung zu bewahren ist – besonders in einer Krise. Wenn ich eine Bewegung von Leuten sehe, die das sogenannte „Christliche Abendland“ retten wollen, ohne überhaupt zu wissen, was der Begriff bedeutet, finde ich religiöse Bildung im Sinne einer inhaltlichen Bildung sehr wichtig. Das gleiche gilt, wenn mir eine bestimmte Partei erklären will, wer mein Nächster ist und wer angeblich nicht.

In der aktuellen Situation ist mir der intensive Kontakt mit den KlassenlehrerInnen ganz wichtig. Die leisten gerade eine Herkulesaufgabe in der Betreuung der Schülerinnen und Schüler. Das kann der Religionsunterricht nicht ersetzen, aber er kann eine zusätzliche Ebene bei dieser Arbeit sein.

Frage: Wie sollte ein relevanter Religionsunterricht ihrer Meinung nach aussehen?

Kuthe: Dazu braucht es zwei Aspekte: Inhalt und Raum. Über die inhaltliche Ebene haben wir schon gesprochen. Das könnte vielleicht sogar ein anderer Unterricht leisten. Aber der Religionsunterricht bietet und schafft einen Raum, in dem sich SchülerInnen mit Fragen auseinandersetzen können, die sie beschäftigen. Das heißt: Ein relevanter Religionsunterricht gibt keine guten Antworten, sondern stellt gute Fragen. Er hat nicht auf alles eine Antwort, so wie auch ein Theologe nicht auf alles eine Antwort hat. Spätestens wenn wir über Auferstehung reden, wird das klar. Und ein relevanter Religionsunterricht weiß vor allem nicht immer, wo es langgeht. Ich möchte einen Religionsunterricht erleben, in dem ich meinen SchülerInnen etwas anbieten kann, aber dann auch merke, wohin sie mit mir weitergehen wollen – ohne dabei in Beliebigkeit zu verfallen. Für mich ist das ein bekenntnisorientierter Religionsunterricht. Das bedeutet in diesem Fall, dass ich mich an den Bekenntnissen der SchülerInnen orientiere. Und das ist eben nicht nur katholisch, sondern viel mehr. Also: Mut zur Lücke, gute Fragen und eine echte, umfassende Bekenntnisorientierung.

Frage: Stichwort Bekenntnisorientierung. In Niedersachsen arbeiten die evangelische und katholische Kirche beim Religionsunterricht schon länger eng zusammen. Nun soll es künftig einen gemeinsamen christlichen Religionsunterricht geben. An dem Konzept arbeitet auch das Bistum Osnabrück mit, für das Sie als Referent tätig sind. Können Sie uns einen Einblick geben, wie dieser gemeinsame christliche Religionsunterricht konkret aussehen wird und was ihn vom bisherigen Modell unterscheidet?

Kuthe: Der gemeinsam verantwortete christliche Religionsunterricht soll als Pflichtfach für alle in der katholischen Kirche oder in einer der evangelischen Kirchen getauften SchülerInnen konzipiert werden. Er soll kein Religionsunterricht für alle sein, sondern ein ordentliches Unterrichtsfach neben dem Religionsunterricht anderer Religionsgemeinschaften und neben dem Fach Werte und Normen sein und dabei uneingeschränkt den Vorgaben von Art. 7 Abs. 3 GG entsprechen, das heißt die Bekenntnisorientierung wird im gemeinsam verantworteten christlichen Religionsunterricht nicht aufgegeben, sondern sachgerecht weiterentwickelt. Die gemeinsam wahrgenommene Verantwortung ist möglich aufgrund des gewachsenen Vertrauens der beteiligten evangelischen Kirchen und katholischen Bistümer und der vertieften Zusammenarbeit in allen Arbeitsfeldern des öffentlichen Wirkens der Kirchen. Die Fortschritte im ökumenischen Dialog bilden für die Beteiligten eine wichtige Grundlage für den Schritt zu einem gemeinsam verantworteten Religionsunterricht. Dabei beziehen sie sich grundlegend auf die schon erreichten theologischen Übereinstimmungen auf der Basis der gemeinsamen biblischen Überlieferung, der gegenseitig anerkannten Taufe und des Bekenntnisses zum dreieinigen Gott.

Frage: Was bedeutet das für das jeweilige konfessionelle Bekenntnis der ReligionslehrerInnen?

Kuthe: Die evangelische bzw. katholische Lehrkraft bleibt in ihrem eigenen Bekenntnis verankert und ist Mitglied in einer der beteiligten Kirchen. Dennoch ist es möglich, dass die konfessionell differenten Wahrheitssätze von der Lehrkraft auf der Basis fachlicher Kompetenz und ökumenischer Haltung angemessen unterrichtet werden, ohne selbst in ihrer eigenen Konfession daran gebunden zu sein. Damit werden die gemeinsamen und die spezifischen Glaubenswahrheiten der Konfessionen gleichermaßen vermittelt.

Frage: Sie haben bereits das Thema Politik angesprochen. Wie politisch darf und sollte der Religionsunterricht sein?

Kuthe: Helmut Schmidt hat mal gesagt, es sei naiv zu glauben, dass man mit der Bergpredigt Politik machen kann. Da hat er völlig recht. Und gleichzeitig hat er damit auch völlig Unrecht, denn jede christliche Botschaft führt ins Miteinander. Im Politikunterricht gilt der Grundsatz, dass alles miteinander ins Gespräch gebracht werden muss, was in der Politik miteinander ins Gespräch gebracht wird. Alle Positionen müssen vertreten sein und man muss sich mit ihnen auseinandersetzen. Das Gleiche müsste eigentlich auch für den Religionsunterricht gelten. Über alles, über das in der Theologie gestritten wird, muss auch im Religionsunterricht diskutiert werden. Hinzu kommt alles, was Kirche als Institution unternimmt. Wenn die evangelische Kirche ein Seenotrettungsschiff im Mittelmeer unterstützt, ist das ein Teil von Kirche, von Gemeinschaft, von Nachfolge und natürlich muss darüber im Religionsunterricht diskutiert werden. Gleiches gilt für Themen wie die Rolle der Frau in der Kirche, die Frage von sexueller Vielfalt. Das sind hochaktuelle Themen in der Theologie, die müssen wir in den Religionsunterricht bringen. Und es sind gleichermaßen hochaktuelle Themen unserer Gesellschaft.

Von daher glaube ich, Religionsunterricht muss nicht erst politisch werden. Themen im Religionsunterricht haben immer auch eine politische oder zumindest eine gesellschaftliche Konnotation, die auch ihren Widerhall in der Politik findet. Es wäre eher falsch zu sagen, Religionsunterricht darf nicht politisch sein, denn damit würde man eine ganz wichtige Ebene herausnehmen. Religionsunterricht darf nicht politisierend sein und bestimmte Parteien empfehlen, weil sie zum Beispiel ein „C“ im Namen tragen.

Frage: In der Corona-Pandemie findet Schule zu großen Teilen digital statt. Nun ist der Religionsunterricht ein Fach, das in besonderer Weise von der Beziehung zwischen SchülerInnen und LehrerInnen lebt. Kann das digital überhaupt funktionieren? Und welche Bedingungen müssen dafür erfüllt sein?

Kuthe: Da würde ich gerne in Teilen widersprechen: Jede gelingende Pädagogik lebt von Beziehung. Ich würde eher sagen, Religionsunterricht lebt von Begegnung. Begegnung mit anderen Religionen, mit persönlicher Auseinandersetzung. Und das ist etwas, das ich grundsätzlich auch in digitaler Form bewerkstelligen kann. Aber was bei digitaler Begegnung sehr stark verloren geht, ist die Lebendigkeit von Begegnung. Im Religionsunterricht muss mir ein Schüler auch mal ins Wort fallen können, weil ihm gerade etwas nicht passt. Da dürfen nicht erst zehn Minuten vergehen, bis ich seine Meldung im Chat gesehen habe.

Ein weiterer Punkt, an dem es schwierig wird, ist die Wahrnehmung von Emotionen. In dem Moment, wo ich bekenntnisorientiert bin, wo ich mich selbst und meine Religiosität in die Waagschale werfe, rede ich ja nicht nur mit Worten. Ich rede mit Mimik, Gestik, mit meinem Körper und meiner Stellung im Raum. Dieser ganze Bereich der Begegnung fällt weg. Der Versuch, mit den vorhandenen digitalen Mitteln, möglichst viel Lebendigkeit zu erzeugen, ist eine wirkliche Herausforderung.

Frage: Welche Bedingungen müssen denn für einen möglichst guten, digitalen Religionsunterricht erfüllt sein?

Kuthe: Die wichtigste Bedingung ist Zeit. Bei dem System, das wir an meiner Schule nutzen, kann ich immer nur eine begrenzte Anzahl an SchülerInnen gleichzeitig auf meinem Bildschirm sehen. Wenn ich sonst in einen Klassenraum komme, merke ich ja direkt, was für eine Stimmung gerade herrscht. Vielleicht ist in der Pause eine Beziehung in die Brüche gegangen oder es gab „Knatsch“. Ich merke auf jeden Fall: Hier ist etwas im Raum, dem muss ich nachgehen. In der Videokonferenz brauche ich Stunden, um jeden einzelnen überhaupt zu Gesicht zu bekommen. Ich kann mich noch nicht einmal mal darauf verlassen, dass ich die Stimme richtig wahrnehme. Wenn ich einer Schülerin zuhöre, fällt es mir schwer, gleichzeitig alle anderen Bildschirme in den Blick zu nehmen. Wie reagiert die Gruppe auf die Aussage der Schülerin? Wer bastelt gerade unter dem Bildschirm? Wer schaut sie verliebt an? Und wer reagiert inhaltlich auf ihren Beitrag?

Frage: Die Frage ist ja auch, wie es weitergeht, wenn die Videokonferenz beendet ist.

Kuthe: Ganz genau. Was mache ich, wenn plötzlich bei einer Schülerin das WLAN zusammenbricht und sie einen Mitschüler bittet, für sie mitzuschreiben? Das wird dann ein reiner inhaltlicher Unterricht und ich kann auch im Anschluss eine PowerPoint-Präsentation mit allen Informationen verschicken. Dann fällt der Mehrwert von Religionsunterricht weg. Und ich muss sagen, selbst nach einem Jahr Pandemie und Lockdown ist die technische Ausstattung der SchülerInnen katastrophal. Und zum Teil gilt das auch für die Lehrkräfte.

Frage: Sie sind selbst Religionslehrer an einem katholischen Gymnasium in Osnabrück. Wie gestalten Sie Ihren Religionsunterricht derzeit in diesem Spannungsfeld?

Kuthe: Ich hatte zum einen das „Glück“, einen Abschlusskurs in der Oberstufe zu haben und in Präsenz unterrichten zu können. Daneben unterrichte ich aber auch in einer Klasse der Mittelstufe. Da ist die Situation wirklich schwierig. Zu wissen, was ich alles gerade nicht anbieten kann, tut mir im Herzen weh. Ein Religionslehrer ist auch mal dafür da, sich selbst zum Deppen zu machen, die Leute zum Lachen zu bringen und Religion lebendig werden zu lassen. Meine SchülerInnen wissen zum Beispiel, dass ich das Buch Exodus liebe. Und immer, wenn es „angeblich“ langweilig wird, werfen sie ein passendes Stichwort in den Raum und ich lege los (lacht). Das zeigt ja, sie haben Lust, etwas zu hören, wenn jemand davon begeistert ist. Sowas geht leider digital nicht wirklich. Momentan gestaltet sich der Religionsunterricht daher eher zu einer Wissensvermittlung. Um die Inhalte wachzuhalten für die Zeit, wenn man wieder in Präsenz unterrichten kann.

 

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Räume schaffe ich eigentlich nur in der Einzelreflexion. Denn, wenn ich im digitalen Raum nach persönlichen Stellungnahmen frage, habe ich schon die Sorge, dass die SchülerInnen einen sehr hohen Schutz empfinden, weil sie in ihrem Kinderzimmer oder in der Küche sitzen. Tatsächlich stehen sie aber ja in der Öffentlichkeit. Wenn wir als Religionslehrkräfte mit unserem eigenen Bekenntnis existenzielle Fragen ins Spiel bringen, dann haben wir auch die Pflicht dafür zu sorgen, dass das ein geschützter Rahmen ist. Und meine SchülerInnen wissen, dass ich fuchsteufelswild werde, wenn in solchen Situationen jemand anfängt zu grinsen oder zu lachen. Diesen geschützten Raum kann ich digital nicht bieten. Den muss ich komplett in die Einzelreflexion geben. Das nehmen viele meiner SchülerInnen tatsächlich gerne an. Mir ist aber auch bewusst, dass ich an einem katholischen Gymnasium unterrichte (lacht).

Frage: Was beschäftigt die SchülerInnen denn aktuell?

Kuthe: Sie möchten endlich wahrgenommen werden. Sie möchten endlich das Gefühl haben, dass sie Teil der Diskussion sind. Was sie sehr beschäftigt, ist das Thema Familie. Viele lernen Familie gerade ganz neu kennen. Und das nicht immer positiv. Es gibt viele SchülerInnen, die Zeit als Familie neu zu schätzen gelernt haben. Es gibt aber auch einige, die nach Fluchtmöglichkeiten aus der Familie suchen, weil sie plötzlich merken, es ist eigentlich ganz gut, morgens in der Schule zu sein. Freundschaft ist ein weiteres Thema. Kontakte bewahren kostet gerade viel Energie. Freundschaften werden intensiver und gleichzeitig fragiler. Und sie wünschen sich Partizipation an Entscheidungsprozessen: Wer darf wann in die Schule? Wie funktioniert Schule jetzt? Was lernen wir? Und wann kommt im Robert-Koch-Institut auch endlich mal die Perspektive der SchülerInnen vor?

Junge Menschen lernen gerade Politik und Gesellschaft auf eine ganz spannende Art und Weise kennen. Ich glaube, wir täten alle miteinander gut daran, ihnen deutlich zu machen, dass wir uns auch für sie interessieren. Sonst haben wir die nächste politikverdrossene Generation. Jetzt sind sie gerade interessiert. Und das auch über die Themen von Fridays for Future hinaus. Sie fragen: Wie funktioniert eigentlich dieses Miteinander? Was heißt Solidarität in einem Staat? Was sind Regeln und Pflichten?

Frage: Eine praktische Frage zum Schluss: Sie haben im Bistum Osnabrück die Online-Gesprächsplattform „Tools and Talk“ initiiert, wo sie KollegInnen digitale Angebote näherbringen. Welche Tools für den Distanzunterricht können Sie empfehlen und worauf sollten LehrerInnen bei der Auswahl achten?

Kuthe: Generell würde ich immer etwas empfehlen, das datenschutzkonform ist. Ich glaube, im ersten Lockdown war es wirklich gut, dass viele KollegInnen mit allem, was sie hatten, versucht haben, den Kontakt zu den SchülerInnen aufrechtzuhalten. Und ich würde nicht wagen über Leuten die Lanze zu brechen, die beispielsweise WhatsApp genutzt haben - überhaupt nicht! Das war in der Situation gut und richtig so. Wenn wir jetzt aber mit etwas Abstand schauen, müssen wir darauf achten, dass rechtliche Fragen nicht verloren gehen. Also: Möglichst Angebote aus Deutschland oder dem europäischen Ausland nutzen. Ich rate mit Blick auf den Datenschutz grundsätzlich von der Nutzung amerikanischer Tools ab.

Außerdem sollten wir unseren ästhetischen Anspruch nicht überbewerten. Der ist nämlich mit Blick auf Tools nicht auf unsere SchülerInnen übertragbar. Die können sich auch für einen Religionsunterricht begeistern, in dem eine Folie auf den Overhead-Projektor gelegt wird. Und das ist ästhetisch nun wirklich das Letze (lacht). Es gibt ein Angebot, das heißt Oncoo.de. Das wurde von zwei Kollegen an berufsbildenden Schulen in Lingen und Osnabrück entwickelt. Dabei handelt es sich um eine ganz einfache Plattform, die unter anderem Möglichkeiten zur Kartenabfrage und Meinungsumfrage bietet. Es müssen keinerlei Daten hinterlegt werden. Dadurch können Schüler anonym auch auf brisante Fragen im Religionsunterricht antworten, weil es überhaupt nicht nachvollziehbar ist, wer wann wie geantwortet hat. Und darum geht es ja eigentlich: Dass ich als Lehrkraft in der Lage bin, mit diesem Medium einen spannenden Dialog mit meinen SchülerInnen zu gestalten. Also: Ich würde auf Datenschutzkonformität achten und darauf, dass es schnell und einfach zu verwenden ist, nach Möglichkeit ohne Anmeldung. Und wenn man sich doch anmelden muss, dann bitte nur die Lehrkraft.

 

Zur Person:

Jens Kuthe unterrichtet Katholische Religion und Latein an der Ursulaschule in Osnabrück. In der Abteilung Schulen und Hochschulen des Bistums Osnabrück ist er als Referent für Religionspädagogik für die Fort- und Weiterbildung von Religionslehrkräften sowie die Hochschulpastoral zuständig.

 

Das Interview führte Maike Müller

 

 

 

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