Für die einen ist er ein „Laberfach“. Für die anderen ist er eine willkommene Möglichkeit, sich mit existenziellen Fragen auseinanderzusetzen. Auf unseren Autor Karl Vörckel hat der Religionsunterricht seit seiner Kindheit eine Faszination ausgeübt. Später wurde er selbst Religionslehrer. In seinem Beitrag nimmt er uns mit auf eine persönliche Reise durch 60 Jahre „Reli“.
Im Laufe meines inzwischen 67 Jahre währenden Lebens habe ich den Religionsunterricht aus fast allen Perspektiven kennen gelernt. Da ich zeitweise Biologie unterrichtet habe, kann ich ein wenig vergleichen und kann sagen: Ich habe kein Fach als so wandlungsfähig erlebt wie eben „Reli“.
In der Grundschule gab es biblische Geschichte bei meiner Klassenlehrerin, Frau W., die auch alle anderen Fächer unterrichtete. Ich kann mich an eine Kinderbibel erinnern, die verloren gegangen ist. Jedenfalls bin ich mit den Geschichten um Noah, Abraham, Josef und Jesus so vertraut, dass ich mich an keine Zeit erinnere, in der ich sie noch nicht gekannt hätte. Ab der dritten Klasse erteilte uns Herr Kaplan S. Katechismusunterricht, beginnend bei der ersten Frage „Wozu sind wir auf Erden?“ – aber bis zur 248. Frage „Was wird am Jüngsten Tag mit der Welt geschehen?“ sind wir nicht gekommen. Ältere Glaubensgeschwister haben mir aber immer wieder voller Stolz versichert, dass sie all diese Fragen noch auswendig beantworten könnten. Der Schwerpunkt meiner religiösen Bildung war allerdings die „Christenlehre und Andacht für die Kinder“. Die Verbindung von Kirchenraum, Gefragtsein, Weihrauch, Segen gefiel mir gut. Als später die „Augsburger Puppenkiste“ konkurrierte und die Pfarrei einen Kaplan weniger hatte, wurde die Andacht für die Kinder gestrichen.
Tafelbilder und große Erwartungen an den Heiligen Geist
In den ersten Jahren meines Gymnasialunterrichtes sollte ich vorwiegend die Bibel illustrieren. Unser geistlicher Religionslehrer, StR. S., zeichnete schwungvoll Jünger und Segelboote und Aussaat und Ernte, und wir sollten alles nachmachen. Das war eine Qual für mich, weil ich Zeichnen und Malen in der Grundschule nicht geübt hatte, Frau W. hielt das für verzichtbar, und ein Naturtalent bin ich auch nicht. In der siebten und achten Klasse war der Religionsunterricht zugleich Firmunterricht. Es wurden gewaltige Erwartungen an die Herabkunft des Heiligen Geistes erweckt, und ich erinnere ein Gefühl der Enttäuschung, als Herr Weihbischof F. mir das Sakrament endlich erteilte.
In der Oberstufe begann Herr OStR B., ein Laie, den Unterricht mit der Frage, welche Themen uns Schüler interessieren. Wir einigten uns auf die Bergpredigt und bemerkten, dass in der Frage, wie diese im alltäglichen Leben verwirklicht werden könnte, „durchaus“ (Herrn B.s Lieblingswort) unterschiedliche Meinungen möglich sind. Es war ja inzwischen 1968 geworden, bei der Messe schaute uns der Priester an, die mühsam gelernten lateinischen Sprüche wurden durch deutsche ersetzt, die Autoritäten bröckelten innerhalb und außerhalb der Kirche. Damit wir die kirchliche Sexualmoral kennenlernen, wurden wir für ein Wochenende zu den Jesuiten geschickt. Pater G. nannte die Dinge beim Namen, aber auf die provozierenden Fragen einiger Jungen reagierte er hilflos. Auch der geistliche StR S., der uns inzwischen wieder übernommen hatte, wich vor den Provokationen ängstlich aus: „Tja, Jungs, diese Dinge ..“
Perspektivenwechsel: Vom Schüler zum Religionslehrer
Einige Jahre später wurde ich zum Doktor der Theologie promoviert und war plötzlich selbst Religionslehrer, denn der Ordinariatsdirektor K. hätte, als er mich kennen lernte, eine Stelle schon zehn Tage zuvor besetzt haben sollen. Bedingt durch einen tragischen Todesfall musste ich drei Jahre lang das Unterrichten im Selbststudium erlernen, bevor das Bistum die zugesagte religionspädagogische Ausbildung durchführen konnte.
Die Würzburger Synode portraitiert einen Religionsunterricht, in dem die Auslegung des Daseins und die Auslegung der Überlieferung unserer Kirche miteinander in ein Gespräch eintreten. Ich nenne einige meiner Lieblingsfragen: „Macht Geld glücklich?“ „Was macht Medien erfolgreich, die auf Schadenfreude setzen?“ „Warum fällt mir das Böse auf, wenn ich Opfer bin, aber nicht, wenn ich Täter bin?“ „Ist Rache süß?“ „Was ist ein gerechter Anteil?“ „Behält der Tod das letzte Wort?“ „Was motiviert uns, oft so zu leben, als ob es Gott nicht gäbe? – Ist es Überzeugung oder Bequemlichkeit?“ „Wenn Gott keine Rolle mehr spielt, was kommt dann?“ „Wann hört der Spaß auf?“ „Wie geht man um mit Daten, Fakten, Empfindungen, Vermutungen, Überzeugungen, Fehleinschätzungen, Werbung, Propaganda, Lügen?“ „Hat die Frage ‚Wozu?‘ einen Sinn?“
Ständig nehme ich aktuelle Anlässe wahr, solche Fragen zu stellen, und ich finde sie in der Bibel und quer durch die Religions- und Kirchengeschichte. Methodisch habe ich einen Faible für spielerische Herangehensweisen, Experimente, die uns in die Reflexion nötigen: Was habe ich gerade erlebt? Was sagt das zum Beispiel über mich, wenn ich bei der Vorstellung, im Lotto zu gewinnen, ausschließlich überlege, was ich mit dem Geld machen werde, und nicht, was der plötzliche Reichtum für uns, für meine Beziehungsnetze bedeuten könnte? – Spiele, Meditationen und Fantasiereisen nehmen für 10, 20 Minuten den Druck aus dem Schulalltag. Inzwischen habe ich beobachtet, dass Deutschlehrer sich Methoden aus dem Religionsunterricht abgeschaut haben. Lediglich in Mathematik und Physik mögen die Bücher bunter geworden sein, die Themen und Lernziele haben sich marginal verschoben, und der Glauben des 19. Jahrhunderts an eine Welt totaler Berechenbarkeit spielt nach wie vor eine große Rolle.
Große Heterogenität beim Lehrernachwuchs
Kurz nach der bestandenen Prüfung kamen Aufgaben in der Aus- und Weiterbildung hinzu. Dabei ist mir aufgefallen, wie heterogen das Bewerberfeld in diesem Fach ist: Die meisten angehenden Religionslehrkräfte kommen aus den Gemeinden, aus der Jugendarbeit, und die Qualität ihres Unterrichtes hängt von der Lernbereitschaft ab. Mir sind allerdings Kandidaten begegnet, die Religion um der Fächerkombination willen gewählt hatten und an Kirche und Theologie wenig Interesse zeigten: „Ich soll euch was über Jeremia erzählen,“ gestand ein Praktikant in entwaffnender Offenheit: „Ihr kennt den bestimmt nicht, und ich habe auch in der letzten Woche zum ersten Mal von ihm gehört.“
Die Bedingungen, unter denen Religionsunterricht stattfindet, haben sich unglaublich schnell verändert. Medien aller Art stehen problemlos für den geplanten oder spontanen Einsatz zur Verfügung, die Lernenden können bei eigenständigen Arbeiten auf ein unüberschaubares Informationsangebot zugreifen, „Lernpfade“ haben die Hausarbeiten um zahlreiche neue Möglichkeiten bereichert. Da es immer sehr aufwändig ist, komplexe Angebote bereitzustellen, sorgen Portale wie rpp-katholisch.de, OERinfo.de, ZUM.de, wirlernenonline.de und viele andere dafür, dass möglichst viele Kolleginnen und Kollegen von der Vorarbeit einzelner profitieren können. Das Portal rpp-katholisch.de, bei dem ich auch als freier Mitarbeiter tätig bin, hilft mit seinen Nachrichten- und Schwerpunktseiten, im Religionsunterricht auf aktuelle Entwicklungen reagieren zu können. Die Idealvorstellung der OER-Bewegung, dass Lernangebote in einer Community entstehen und weiterentwickelt werden, reibt sich mit der Mentalität der Mitwirkenden, die mehrheitlich entweder gerne etwas ganz Eigenes entwickeln oder sich komplett bedienen lassen wollen.
Aus Kompetenzmodell wird Zwei-Säulen-Modell
Zum Abschluss meines aktiven Lehrerdaseins war ich mit der Aufgabe betraut, wie man den Religionsunterricht der Oberstufe durch „Kerncurricula“ steuern kann. Das Kompetenzmodell als Allheilmittel der Bildungsplanung war da schon dem offeneren Ansatz des Zwei-Säulen-Modells gewichen, in dem auch die Inhalte eine Rolle spielen, an denen Kompetenzen zu erwerben sind. Zum Beispiel lässt ein Thema wie „Angemessen von Gott sprechen“ viele Möglichkeiten offen, Aktualität mit der uralten Diskussion um zulässige Darstellungen Gottes zu verbinden.
So habe ich in den vielen Jahren den Religionsunterricht als ein Feld erlebt, auf dem über religiöse Fragen immer weniger doziert oder gepredigt wird, sondern Menschen von höchst unterschiedlichen Ausgangspunkten her ins Gespräch kommen. In meiner Kinderzeit wäre niemand auf die Idee gekommen, die Kirche oder den Klerus in Frage zu stellen. Jedenfalls ist in all den Jahren der Religionsunterricht ein fantastisches Arbeitsfeld geblieben, denn Lehrerinnen und Lehrer erfahren alltäglich, was die Kinder und Jugendlichen umtreibt, die in den kommenden Jahrzehnten „die Gesellschaft“ sein werden und die Träger der Religionsgeschichte.
Von Dr. Karl Vörckel