In den vergangenen Monaten der Corona-Pandemie wurde nach der Systemrelevanz des Religionsunterrichts gefragt. Auch angesichts gesellschaftlicher Veränderungen wie einer individualisierten Religiosität muss sich das Fach immer wieder neu ausrichten, findet Ludger Verst. In seinem Gastbeitrag auf rpp-katholisch.de stellt er Ideen für einen zukunftsfähigen Religionsunterricht vor.
Was ist und was will religiöse Bildung?
Die Corona-Pandemie hat in den letzten Monaten verschiedenste Branchen und Berufe in einen Wettstreit darüber verwickelt, welchen Beitrag zur sozialen oder kulturellen Grundversorgung der Bevölkerung sie tatsächlich leisten. So sehen sich — in zweiter oder dritter Reihe — auch Theologie und Kirche und wohl auch der Religionsunterricht mit der Frage nach der Systemrelevanz ihres Handelns konfrontiert. Die herrschenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen tauchen das religiöse Feld in ein ambivalentes Licht. Religion und religiöse Bildung sind heute einer Wirklichkeit ausgesetzt, die streng an Sinn und Nutzen, kaum mehr an Traditionspflege interessiert ist.
Religion, wie sie die meisten kennen, ist konfessionell geprägt, bekenntnishaft, kirchlich, kurz: institutionalisiert. Institutionalisierte Religion hat es heute schwer. Sie wirkt einerseits „depotenziert und entplausibilisiert“, wie der Religionspädagoge Ulrich Kropač es nennt. Andererseits erfährt sie Rehabilitierung und sogar neue Anerkennung dadurch, dass die ihr innewohnenden Vernunfts- und Weisheitspotenziale als Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher Probleme und zur Bearbeitung persönlicher Lebensfragen wiederentdeckt werden. Dies geschieht jedoch unter deutlich veränderten Rezeptionsbedingungen — auch in der Schule.
Lernende als Akteure ihrer religiösen und spirituellen Selbstbestimmung
Schon in jungen Jahren zeigen sich Lernende heute als autonome Akteure ihrer religiösen und spirituellen Selbstbestimmung. Dies birgt für den Religionsunterricht Chancen und Risiken zugleich. Denn eine inzwischen weithin individualisierte Religiosität von Lernenden (und Lehrenden) steht in der Gefahr, trotz anspruchsvoller Bildungspläne und Schulcurricula inhaltlich wenig verbindlich, im Grunde farb- und konturlos zu bleiben und eine lebensbedeutsame Kraft kaum mehr zu entfalten. Die Dynamik gesellschaftlicher und persönlicher Entwicklungsprozesse hat zu neuen, unkonventionellen Mustern der Verbindung von Religion und Kultur geführt, die nicht mehr kirchlich geprägt, sondern nahezu ausschließlich inmitten profaner Lebenswelten gebildet und ausprobiert werden.
Schulischer Religionsunterricht muss sich mit den Ambivalenzen eines solcherart veränderten religiösen Feldes deutlicher als bisher auseinandersetzen. Seine Aufgabe kann es nicht sein, Ambivalenzen aufzulösen; er muss sie fortwährend kritisch-konstruktiv bearbeiten. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich die religionspädagogische Aufmerksamkeit für religionskulturelle Phänomene zwar deutlich erhöht (z.B. im Bereich der Popkultur); eine systematische Durcharbeitung des Gegenstandsbereichs selbst — etwa in der religionspädagogischen Theoriebildung, geschweige denn in der religionspädagogischen Fort- und Weiterbildung — ist in hohem Maße defizitär.
Hier sehe ich einen wesentlichen Aufarbeitungs- und Nachbesserungsbedarf im Aufgabenfeld (religions-)pädagogischer Institute, vor allem derer, die im Auftrag kirchlicher, d.h. diözesaner und überdiözesaner Träger arbeiten und von ihnen finanziert werden.
Schulischen Religionsunterricht überzeugend begründen
Die Aufgabe, religiöse Bildung in der öffentlichen Schule überzeugend zu begründen, zeigt sich gerade unter den verschärften Bedingungen der Corona-Pandemie als eine religionspädagogische Herausforderung ersten Ranges. Bislang geltende Begründungsmuster müssten vor dem Hintergrund veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse modifiziert, vielleicht auch revidiert werden. Denn trotz der eher formalen, grundgesetzlichen Sicherung des Religionsunterrichts ist religiöse Bildung in der Schule zusehends erklärungs-, wenn nicht gar begründungspflichtig geworden. Im Legitimationsdiskurs für das Fach Religion ist bildungs- und schulpolitisch plausibel zu machen, welchen Nutzen religiöse Bildung für Staat, Gesellschaft und Individuum überhaupt (noch) einzubringen vermag. Weniger das institutionelle als das interdisziplinäre Gespräch wäre zu suchen: zwischen Bildungsverantwortlichen und Vertreter*innen von Berufsverbänden, zwischen Fachwissenschaftler*innen, Lehrenden und Lernenden — in Arbeitsgemeinschaften, Pilotprojekten und Feldversuchen über die Frage: Was will und was soll religiöse Bildung in Zukunft leisten?
Was will und was soll religiöse Bildung in Zukunft leisten?
1. Zukunftsfähige religiöse Bildung müsste Religion als einen eigenständigen, biografisch orientierten Modus der Weltbegegnung und des Weltverstehens etablieren und dabei indukative und edukative Aspekte der Weltaneignung berücksichtigen. — Was ist mein Platz in dieser Welt? Kann ich meinem Leben jenseits aller Nützlichkeit auch Tiefe verleihen? Gibt es bleibende Werte? Wie weit reicht mein Anspruch auf eine Beherrschbarkeit des Lebens, auf ein Leben ohne grundstürzende existenzielle Erschütterungen? Und wie verhält sich die Rede von Gott oder von Göttlichem zu solchen fundamentalen Erfahrungen? — Antwortangebote werden heute mehr oder weniger individuell auf Stimmigkeit überprüft und erlebnisbezogen formatiert. Eine früher sich eher sozial und politisch definierende Religiosität tritt heute hinter eine deutlich biografiesensiblere Spiritualität zurück. Das Interesse an religiösen Inhalten bemisst sich weitgehend danach, ob und inwieweit sie Prozesse der Selbstthematisierung und Selbstvergewisserung in Gang setzen. Der Religionsunterricht bietet hier einen wichtigen Raum, in dem existenzielle Erfahrungen gemeinsam zur Sprache gebracht und lebensrelevant bearbeitet werden.
2. Religion als Kultur des Umgangs mit menschlich Unverfügbarem, mit Kontingenz und Transzendenz stellt eine wichtige Form des Weltzugangs und der Weltdeutung dar, die auf den steigenden Orientierungs- und Reflexionsbedarf in Gesellschaft und Schule konstruktiv zu antworten und den Beteiligten mit einer eigenen Ausdruckskultur zu begegnen versteht. Hier liegt die große Chance religiöser Bildungsangebote. Sie bringen theologische Deutungen menschlicher Existenz und der Würde eines jeden Lebens ins Spiel, insbesondere in Dilemmasituationen. Sie bieten bewährte Lebensdeutungen und Ausdrucksformen im Umgang mit Angst und Einsamkeit, Liebe und Glück, Tod und Trauer. Denn Leben und Überleben, vor allem in Krisen, kann nur gelingen, wo sich am Ende einer inhaltlichen und existenziellen Auseinandersetzung ein Lösungsangebot abzeichnet. Wo hingegen das Nachdenken über sich und seine Welt im Dunkeln, d.h. ungeklärt und unerklärbar bleibt, da sind Ressourcen einer Krisenbewältigung rasch erschöpft. Visionen für ein Leben nach der Krise, wie sie etwa aus dem christlichen Glauben gerade angesichts der Krise erwachsen können, sind auch unabhängig von pandemischen Krisenerfahrungen allgemein plausibel und wünschenswert. Hier sehe ich religionspädagogische Zugänge zu einer gleichermaßen wertevermittelnden wie weltoffenen Schule und zu einem Religionsunterricht, der in religiöse Wissensbestände und Narrative gelingender Lebens- und Krisenbewältigung einführt und Lernende befähigt, sich diese anzueignen, sie zu kritisieren und zu transformieren.
3. Kinder und Jugendliche denken und agieren pragmatisch. In diesem Rahmen verorten sie ihre Religiosität oder Spiritualität. Sie setzen sie strategisch ein. Eine religionspädagogische Kernaufgabe in der Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften wird darin bestehen, Religiosität und Spiritualität ungeachtet ihrer immer schon gegebenen Bezogenheit auf institutionalisierte Religion als eigenständige biografische Einflussgrößen anzuerkennen und zu reflektieren. Religiöse bzw. spirituelle Kompetenz müssten als Schlüsselbegriffe religiöser Bildung in der Schule deutlicher profiliert werden. Sie bilden ein „anthropologisches Grunddatum“, so Ulrich Kropač. Wo dieses mit Hilfe religiöser Kategorien ausbuchstabiert werde, handle es sich um Religiosität; wo es eher biografischen Aspekten einer Sinn-Konstituierung folgt, so möchte ich ergänzen, um Spiritualität.
4. Es wird für die Zukunft der Religionspädagogik und in praktischer Konsequenz auch für den Status des Religionsunterrichts von großer Tragweite sein, sich nicht vom aktuellen Bildungsdiskurs zu isolieren, sondern sich an ihm dezidiert weiter zu beteiligen. Hier sehe ich, was das Land Hessen betrifft, das Pädagogische Zentrum (PZ) mit seinem durch die Bistümer Limburg, Mainz und Fulda erteilten religionspädagogischen Kernauftrag in besonderer Weise geeignet und ebenso in der Pflicht. Die vier Handlungsfelder des PZ — „Führen und Leiten“, „Entwickeln und Gestalten“, „Lehren und Lernen“ und „Kommunizieren und Kooperieren“ —, in denen seit Jahren wertvolle und nachhaltige Bildungsarbeit geschieht, müssten meines Erachtens (wieder) stärker auf religionspädagogische und -didaktische Erfordernisse hin ausgerichtet und inhaltlich entsprechend profiliert werden.
5. Das bisherige Bemühen um Kompetenzoptimierung müsste erweitert werden. Durch die weiter zurückgehende Akzeptanz der konfessionellen Gestalt von Religionsunterricht erhält die Frage nach anderen geeigneten Modellen religiöser Bildung in der Schule neuen Auftrieb. Es empfiehlt sich, die Modellierung von Religionsunterricht nach Leitlinien vorzunehmen, die auf einen breiten interdisziplinären Konsens zielen. Dazu bräuchte es den kommunikationsstiftenden Impuls einer Institution, die zwischen den Anwälten verschiedener Formen religiöser Bildung und religionspädagogischer Schulen Gespräche initiiert, um methodische, didaktische, möglicherweise auch systemische Innovationen anzuregen, zu begleiten und nachhaltig zu fördern.
Innovativ ist eine Religionspädagogik, wenn sie konfessionelle Identität und kulturelle Diversität miteinander verbindet. Dann dürfte Religionsunterricht auch in Zukunft nicht als pädagogischer Restposten einer merkwürdigen kirchlichen Sonderwirklichkeit empfunden werden, sondern als Reflexionsort eigener Existenzerfahrungen zu erleben sein.
Von Ludger Verst
Dieser Text ist zuerst erschienen auf dem Blog "Neues aus der Parallelwelt".
Über den Autor:
Ludger Verst unterrichtet die Fächer Katholische Religion und Deutsch und ist seit 2016 Schul- und Krisenseelsorger. Seit zwei Jahren ist er zudem Berater und Supervisor an Schulen im Bistum Mainz sowie Diözesanbeauftragter für Lehrerfortbildung.