(Quelle: privat)

Die großen Fragen bleiben

Nachrichten | 23.03.2020

Die Zahl der Konfessionslosen wächst. Das stellt den Religionsunterricht vor Herausforderungen. Ulrich Kropač, Professor für Didaktik der Religionslehre, für Katechetik und Religionspädagogik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt sieht dennoch eine große Chance in dem Bildungsangebot - wenn es sich grundlegend ändert. Seine zentrale Forderung lautet, das Fach konsequent für konfessionslose Schülerinnen und Schüler zu öffnen. Wir haben mit dem Theologen und Mathematiker über seine Idee eines zukunftsfähigen Religionsunterrichts gesprochen.

 

Frage: Herr Kropač, als Professor an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt beschäftigen Sie sich wissenschaftlich mit den Themen Jugendreligiosität und religiöse Bildung. Welche Rolle spielt Religion heute noch im Leben von Kindern und Jugendlichen?

Kropač: Ich würde sagen, eine größere Rolle, als man vermutet. Es ist immer die Frage, was man unter Religion versteht. Wird Religion in erster Linie als kirchliche Religion gesehen, dann steht außer Zweifel, dass diese Form bei Kindern und jungen Leuten wenig nachgefragt ist. Das ist ablesbar an den einschlägigen Indikatoren wie Gottesdienstbesuchen, Sakramentenempfang, Bibellektüre usw. Wenn man aber einen weiten Begriff zugrunde legt, ist Religion nicht festgelegt auf institutionalisierte Religion. Dann bezieht sie sich auf große Fragen, Fragen also, die einen Menschen unmittelbar angehen. Die großen Fragen bei Kindern und jungen Leuten sind mitnichten verschwunden, sie tauchen nur nicht im herkömmlichen religiösen Gewand auf. Also, das Religiöse – und weniger die Religion – ist präsent. Man kann es sehen, wenn man die richtige Brille trägt.

Frage: Kann man sagen, dass Jugendliche kirchenfern, aber dennoch an Religion interessiert sind?

Kropač: Ja, ich würde es aber etwas vorsichtiger formulieren. Junge Leute sind an religiös relevanten Fragen interessiert.

Frage: Welche Fragen sind das?

Kropač: Wer bin ich? Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Was ist Glück? Wie gelingt mein Leben? Und eine der größten Fragen, die junge Leute heute stellen, ist die Frage nach der Anerkennung. Das Ich bei jungen Menschen konstituiert sich heute vor allem aufgrund der Anerkennung durch andere. Das zeigt sich besonders in den sozialen Medien. Dort wird oft etwas aus dem eigenen Leben gepostet; darauf erwartet man ‚Likes‘. Zu sehen ist das in einschlägigen Serien, etwa Heidi Klums Show „Germany's next Topmodel“, wo Menschen eine Celebrity werden wollen, um den Beifall der anderen zu ernten. Das ist ein Thema junger Menschen: Die Konstruktion der eigenen Identität über die Anerkennung durch andere.

Frage: Was bedeutet das konkret für den schulischen Religionsunterricht? Können Lehrerinnen und Lehrer ihre Schülerinnen und Schüler über die klassischen Formen und Riten – wie Gottesdienste, Bibeltexte – überhaupt noch erreichen?

Kropač: Ich glaube, dass das zunehmend schwieriger wird. Der Religionsunterricht ist wichtig und richtig und er hat auch Chancen. Ich habe allerdings die Sorge, dass das bei der tradierten inhaltlichen Ausrichtung und möglicherweise auch bei der herkömmlichen Organisationsform je länger je mehr an Grenzen stößt.

Frage: Wo ist Gott in der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler zu finden? Wie kann man ihn dort erkennen?

Kropač: Ich sehe mehrere Möglichkeiten, wo wir neu suchen können. Es ist zum einen der schon erwähnte Pool der großen Fragen. Sie verschwinden nicht. Große Fragen sind ja nie nur persönliche Fragen, sondern es sind immer auch die Themen von Gesellschaften, Völkern und Nationen. Wir haben ja mit der Ausbreitung des Coronavirus im Augenblick auch eine große Frage in Deutschland. Es ist zu spüren, wie das Virus ein ganzes Land zum Beben bringt. Wie gehen wir damit um, dass unsere bisherigen Sicherheiten ins Wanken geraten? Das ist nicht nur das Problem der einzelnen Person, sondern das einer ganzen Nation.

Also, es stellen sich große Fragen und der Religionsunterricht muss den Horizont dafür aufspannen. Zu diesem Fragekreis gehört auch die Gottesfrage – aber als echte Frage und nicht als Antwort, die immer schon gegeben ist. Genau das macht den Religionsunterricht nämlich auf Dauer uninteressant: wenn die Schülerinnen und Schüler erahnen können, dass es auf jede große Frage eigentlich die immer gleiche religiöse Antwort gibt.

Eine zweite Möglichkeit: Für moderne Menschen ist die Fähigkeit bedeutungsvoll, Perspektiven wechseln, sich in unterschiedlichen Denksystemen bewegen und diese komplementär aufeinander beziehen zu können. Ein klassisches Beispiel hierfür ist die Frage nach Schöpfung oder/und Evolution. Häufig scheint es, als wären das sich ausschließende Alternativen. Es ist für Schülerinnen und Schüler, aber natürlich auch für Erwachsene wichtig, beide Perspektiven, die religiöse und die naturwissenschaftliche, im Sinne komplementären Denkens koordinieren zu können.

Eine dritte Möglichkeit: Wir finden Religion nach wie vor innerhalb der Kirchenmauern: gemeint sind das Gebäude selbst, sein Inventar und natürlich die Personen, die sich der Kirche zugehörig fühlen. Nur werden diese Orte von jungen Leuten immer weniger aufgesucht. Sie finden Religiöses heute an profanen Ufern.

Frage: Wo liegen diese Ufer?

Kropač: Unter anderem in Kinofilmen. Ihr Erfolg liegt darin, dass sie die großen Fragen der Menschen verarbeiten. Darüber hinaus finden wir religiös Relevantes oder religiös Interpretierbares auch in der Popmusik. Adel Tawil mit seinem Song „Ist da jemand“ könnte hier genannt werden. Oder Sarah Connor mit dem Song „Wie schön du bist“. Das sind keine religiösen Lieder. Aber in beiden Fällen ist es so, dass sich Video und Text für eine religiöse Interpretation öffnen.

Frage: Es wird auch von sogenannten Ersatz-Religionen gesprochen. Da wären zum Beispiel der Fitness- und Gesundheitsboom oder der Bereich Selbstoptimierung. Sind das Themen, die in den Religionsunterricht gehören?

Kropač: Das sind auf alle Fälle relevante Themen. Dahinter verbirgt sich die für junge Leute hochrelevante Frage nach dem eigenen Ich und dessen Wert. Wenn wir davon ausgehen, dass der Religionsunterricht für die jungen Leute da ist, nicht für die Kirche, dann müssen die Themen der jungen Leute auch Themen des Religionsunterrichts sein – zwingend! Und zwar so, dass nicht immer gleich der moralische Zeigefinger erhoben wird. Natürlich haben die genannten Trends auch Schattenseiten, die zu thematisieren sind. Aber sie haben auch positive Seiten.

Frage: Zwei Begriffe betonen Sie besonders: die Religiosität und die Religionskultur. Können Sie bitte einmal erklären, was Sie damit meinen?

Kropač: In der Regel sprechen wir von Religion – und meinen damit die großen Weltreligionen. Das führt, wie ich schon gesagt habe, den Begriff der Religion viel zu eng. Das Phänomen des Religiösen greift viel weiter aus. Deshalb möchte ich auf zwei Bereiche aufmerksam machen, die unterbelichtet sind.

Erstes Stichwort: Religiosität. Individuelle Religiosität ist heute kein Schattenwurf der ‚offiziellen‘, der institutionellen Religion mehr. In der Postmoderne – die Zeit, in der wir leben – konstituieren Menschen ihre Religiosität selbst. Diese ist mehr und anderes als nur eine Miniaturausgabe tradierter Religion. Wenn man Religiosität als eigene Größe anerkennt, dann weitet sich der Blick, weil man nicht immer nur danach fragt, was kirchlich an der Religiosität von Menschen ist.

Zweites Stichwort: Religionskultur. Wir finden Religion in verschiedenen Formen in der Kultur vor, markant und für alle sichtbar bzw. erfahrbar zum Beispiel in kirchlichen Gebäuden oder in Form kirchlicher Feiertage. Das ist eine Form von Religionskultur. Aber wir finden Religiöses heute auch an Orten, an denen wir es zunächst nicht vermuten würden. Ich denke an Filme, Popmusik, die neuen Medien, den Cyberspace. Hier treten religiös relevante Bilder, Symbole, Fragen zutage, und das in großer Dichte. Traditionell waren die Träger der religiösen Sozialisation zum einen die Familie und zum anderen die Gemeinde. Diese Instanzen fallen heute weitgehend aus. Das bedeutet aber nicht, dass es keine religiöse Sozialisation mehr gäbe. Sie findet nur eben an anderen Orten statt, in der profanen Welt. Die profane Welt ist, mit anderen Worten, religionsproduktiv.

Frage: Können Sie dafür ein konkretes Beispiel nennen?

Kropač: Die Filmtrilogie Der Herr der Ringe. Eigentlich sollte man meinen, solche Filme hätten in unserer aufgeklärten Welt keine Chance. Die Geschichte blendet ja zurück in mittelalterliche, in mythische Zeiten. Aber wir interessieren uns für den Mythos. Denn darin sind die großen Fragen geborgen, gerade in Der Herr der Ringe: Was ist gut? Was ist böse? Was ist Erlösung? Die großen Fragen gehen nicht verloren. Aber es sind längst nicht nur Kirche und Religion, die sie bearbeiten, das tun auch andere.

Frage: Eine ihrer zentralen Forderungen lautet: Der Religionsunterricht muss sich konsequent auch für konfessionslose Schülerinnen und Schüler öffnen. Wie sieht das aus?

Kropač: Bislang nehmen konfessionslose Schülerinnen und Schüler nur im Ausnahmefall am Religionsunterricht teil. Was mich zu meiner Forderung bewegt, sind zum einen die demografischen Daten. Derzeit sind 28 % der Bevölkerung römisch-katholisch, 26 % evangelisch und 38 % konfessionslos. Die Entwicklung geht klar dahin, dass es zukünftig immer mehr konfessionslose Menschen geben wird.

Selbst wenn jemand konfessions- bzw. religionslos ist, halte ich es für geboten – und zwar aus Gründen einer soliden Allgemeinbildung –, dass er in Sachen Religion kompetent ist. Dazu bedarf es übrigens keines persönlichen Glaubens. Infolgedessen brauchen wir auch für die Konfessions- und Religionslosen ein Bildungsangebot.

Zum anderen haben wir viele Schülerinnen und Schüler, die de jure entweder der römisch-katholischen oder der evangelischen Kirche zugehören. De facto ist ihnen ihre eigene Konfession aber fremd. Dann aber stellt sich die Frage, inwieweit sie sich überhaupt noch von de jure Konfessionslosen unterscheiden. Anders gesagt: Wenn sich der Religionsunterricht weiterhin auf konfessionell gebundene Schülerinnen und Schüler beschränkt, findet er je länger je mehr junge Leute vor, für die Konfessionalität überhaupt kein Thema ist. Warum also den Religionsunterricht nicht gleich viel stärker auf die Situation ausrichten, die in Zukunft auf uns zukommt, nämlich die Konstellation einer wachsenden Säkularität?

Frage: Sieht der Religionsunterricht dann eine stärkere Verquickung mit dem Ethikunterricht vor?

Kropač: Wenn konfessionslose Schülerinnen und Schüler im Regelfall eingeladen werden sollen, am Religionsunterricht teilzunehmen, muss er sich inhaltlich und womöglich auch organisatorisch ändern. Ein einfaches Beispiel: Nehmen wir an, Sie laden sich einen Gast aus einem anderen Kulturkreis ein, wo bestimmte Essensgewohnheiten gelten. Dann werden Sie als gute Gastgeberin darauf Rücksicht nehmen. Es ist ein Zeichen von Gastfreundschaft, den kulturellen Horizont des Anderen wahrzunehmen und darauf Rücksicht zu nehmen. Auf den Religionsunterricht bezogen: Es ist zu wenig, konfessionslose Schülerinnen und Schüler nur einzuladen, ansonsten aber an der traditionellen religionsunterrichtlichen Systematik festzuhalten. Daher muss sich der Religionsunterricht ändern. Wenn er es nicht tut, gerät er immer mehr in die Krise.

Frage: Was bedeutet das alles konkret für Religionslehrerinnen und Religionslehrer? Wie müssen sie in Zukunft aufgestellt sein?

Kropač: Eine erste Qualifikation ergibt sich aus einem Papier der katholischen Bischöfe aus dem Jahr 2016, das eine Öffnung des Religionsunterrichts für konfessionelle Kooperationen vorsieht. Damit muss sich die Ausbildung von Religionslehrerinnen und Religionslehrern dahingehend ändern, dass sie wesentlich mehr über die je andere Konfession wissen sowie über didaktische Konzepte einer Zusammenarbeit zwischen den beiden Konfessionen verfügen. Wobei es aber, nebenbei bemerkt, nicht genügt, den Religionsunterricht nur als eine Art Konfessionskunde auszugestalten. Damit würde er sein eigentliches Ziel verfehlen. Es geht vornehmlich darum, das Gemeinsame, das Christliche in den Vordergrund zu rücken.

Mein eigener Ansatz geht aber noch über solche konfessionellen Kooperationen hinaus. Denn, wie gesagt, die konfessionelle Bindung der Bevölkerung geht zurück, während im Gegenzug die Konfessionslosigkeit wächst. Darauf brauchen wir Antworten. Die Fragehorizonte im Religionsunterricht werden in Zukunft weiter gespannt werden müssen. Dadurch wird der Religionsunterricht stärker philosophisch geprägt sein und auch stärker ethisch. Die konfessionsgebundenen Inhalte dagegen verlieren an Bedeutung.

Frage: Braucht es für einen zukunftsfähigen Religionsunterricht, wie Sie ihn beschreiben, eine konfessionsgebundene Lehrperson?

Kropač: Gleich, ob Religionsunterricht konfessionell gebunden ist oder nicht: Eine Lehrperson mit religiösem Bekenntnis kann ihn in beiden Fällen halten. Das liegt daran, dass Lehrerinnen und Lehrer einen professionellen Habitus entwickeln müssen, der es ihnen erlaubt, zwischen dem unterrichtlichen Gegenstand und ihrer persönlichen Haltung dazu sorgfältig zu unterscheiden. Wäre es anders, dann dürften z.B. Lehrkräfte, die einer Partei angehören oder für eine Partei in einem Gemeinde- oder Stadtrat sitzen, Fächer wie Sozialkunde oder Politik nicht erteilen. Das aber wäre unvernünftig.

 

Das Interview führte Maike Müller

 

Zur Person:

Ulrich Kropač studierte Katholische Theologie und Mathematik. Nachdem er im Fach Dogmatik promoviert wurde, arbeitete er mehrere Jahre nebenamtlich als Religionslehrer. Nach seiner Habilitation an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Regensburg, einem Ruf auf den Lehrstuhl für Religionspädagogik und Katechetik an der Theologischen Hochschule Chur, ist Kropač seit 2007 Inhaber des Lehrstuhls für Didaktik der Religionslehre, für Katechetik und Religionspädagogik der Katholischen Fakultät der KU Eichstätt-Ingolstadt. Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem in den Bereichen Jugendreligiosität und religiöse Bildung.

 

 

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