(Quelle: Maike Müller)

"Game on!"

Nachrichten | 17.05.2018

Thimo Zirpel ist Religionslehrer – und er ist fasziniert von Computerspielen. So sehr, dass er sich im Rahmen seiner Doktorarbeit mit den Chancen von Computerspielen für den Religionsunterricht beschäftigt hat. Der promovierte Theologe und Religionspädagoge wirbt für mehr Offenheit für diese Mediengattung – auch und gerade im Religionsunterricht.

Frage: Herr Zirpel, eine Doktorarbeit über Computerspiele. Haben Sie Ihr Hobby zum Beruf gemacht?

Thimo Zirpel: Das kann man schon sagen. Im Unterricht kam mal eine Schülerin auf mich zu und fragte: „Herr Zirpel, können wir nicht einfach mal einen Tag lang erzählen, was wir alles so spielen?“. Und Ich dachte mir, klar gerne! Natürlich muss man schauen, wo man so etwas im Unterricht sinnvoll unterbringen kann, damit es eben nicht „nur erzählen“ ist. Aber ja, ich habe auch selbst viel Zeit in Computerspiele investiert – und auch viel dabei gelernt, zum Beispiel mein Englisch verbessert. Nach dem Studium habe ich dann von meinem damaligen Chef, bei dem ich als Hilfskraft gearbeitet habe, das Angebot bekommen, bei ihm zu promovieren. Das Thema meiner Doktorarbeit war dann auch direkt mein Erstwunsch.

Frage: Wenn es um Computerspiele und neue Medien geht, reicht die Diskussion von der Auffassung, man müsse Kinder so lange wie möglich von Computern fernhalten bis zu der Forderung „Medienerziehung ab der ersten Klasse!“. Wo stehen Sie in der Diskussion?

Zirpel: Ich finde es sehr wichtig, dass die Mediennutzung ausgewogen ist. Ich würde daher keinem Medium den absoluten Vorrang geben. Weder dem Buch, noch dem Computerspiel, noch sonst irgendwas. Denn ich denke, dass das alles unterschiedliche Möglichkeiten sind, sich auszudrücken und Erfahrungen zu machen und zu vermitteln. Bei meinen eigenen Kindern halte ich es so, dass sie ein gesundes Maß an elektronischen Medien konsumieren dürfen.

Frage: Was heißt das konkret?

Zirpel: Ein klassischer Fall ist natürlich das Fernsehen. Da haben wir abgemacht, dass die Kinder einmal am Tag fernsehen dürfen, meist ist das vor dem Abendessen. Da ist aber klar, dass wir erst einmal gemeinsam den Tisch decken und dann dürfen sie zwischen 20 und 40 Minuten fernsehen. An einem Wochenende schauen wir uns dann vielleicht auch noch einmal gemeinsam einen etwas längeren Film an. Meine Kinder haben noch sehr viel Respekt vor den Bildern, die sie sehen. Und wenn sie Angst kriegen, dann schalten sie auch selber aus oder fragen, ob sie umschalten dürfen. Ich finde es ganz wichtig, dass die dort herangeführt werden und gleichzeitig lernen, selbstbewusst und reflektiert mit Medien umzugehen. Ähnlich ist das auch bei der Computernutzung, zum Beispiel wenn sie mit meinem Tablet spielen.

Frage: Welche Vorurteile haben Lehrer und Eltern gegen Computerspiele?

Zirpel: Eines der häufigsten Vorurteile ist, dass Computerspiele Zeitverschwendung sind und dadurch einfach viel Lebenszeit irgendwie und ungenutzt verpufft. Auch kombiniert mit der Vorstellung, man könne mit der Zeit etwas Besseres machen. Besser bedeutet dann meistens Sport oder nach draußen gehen, Lesen oder sich mit Freunden treffen.

Frage: Können Sie dem denn etwas entgegnen?

Zirpel: Ich finde es schwer, dem zumindest pauschal etwas zu entgegnen, weil das natürlich immer Einzelfallgeschichten sind. Es gibt natürlich Formen, die nicht gut sind. Experten vermuten, dass rund 5 Prozent der Kinder und Jugendlichen Computerspiele suchtähnlich konsumieren. Es kommt immer darauf an, wie die Kinder mit Medien sozialisiert worden sind. Wenn grenzenloser Konsum zu Hause normal ist, weil die Eltern auch nonstop vorm Fernseher oder Computer sitzen, dann gehen die Kinder eher ähnlich damit um. Ich finde es aber – wenn in gesundem Maße gespielt wird – beachtlich, wie viel da so an Lernen nebenbei passiert und wie viel Motivation dabei aufgebaut wird. Außerdem können Jugendliche sich in unterschiedlichsten Umgebungen erfahren. Da ist natürlich „Virtual Reality“ ein ganz wichtiges Stichwort. Das ist auch, was das Sportargument angeht ein wichtiger Punkt, denn Spiele mit einem VR-Helm erfordern meist sehr viel Bewegung. Generell sollten Eltern mit ihren Kindern im Gespräch bleiben. Und sich auch mal mit daneben setzen, wenn sie spielen. Ich weiß, dass das für viele schwer ist, weil es vielleicht fremd ist oder das persönliche Interesse fehlt. Als Lehrkraft muss man dann dafür sorgen, dass der Transfer klappt und vermitteln.

Frage: Hätten Sie dafür vielleicht ein konkretes Beispiel aus Ihrem Unterrichtsalltag?

Zirpel: Neulich habe ich mit meiner siebten Klasse über das Thema Taufe gesprochen. Da haben wir versucht herauszufinden, was die Taufe eigentlich konkret bedeutet. Ja klar, man gehört dadurch zu Christus. Aber was heißt das denn genau? Getaufte gehören zu einer Gemeinschaft, haben sozusagen ein verbindendes Motto und ganz bestimmte Grundregeln, denen man sich verschreibt. Da kamen dann ein paar Jungs, die Online-Rollenspiele spielen, und sagten: In meiner Gilde oder in meinem Clan, wenn wir zocken, da gibt es das auch, da gibt es auch Erkennungszeichen, Riten, wenn jemand neu in eine Gruppe aufgenommen wird. Darüber sind wir dann wieder auf unsere christlichen Symbole gekommen: das Kreuz an der Kette oder der Fisch am Auto. Daran konnten die Schüler viel leichter anknüpfen.

Frage: Spielen Jungs und Mädchen gleichermaßen?

Zirpel: Gerade Jungs verbringen sehr viel Zeit mit Computerspielen. Aber auch bei den Mädchen wird das mehr, je breiter das Angebot ist. Jugendmedienstudien zeigen klar, dass es nur wenige Spiele gibt, die von beiden Geschlechtern gleich viel gespielt werden. Jungen mögen eher konfrontative Spiele, während Mädchen oft ein sozialer beziehungsweise kooperativer Aspekt wichtig ist. Mit „Minecraft“ gibt es in den jüngeren Jahrgängen aber auch ein Spiel, zu dem beide Geschlechter großen Zugang haben.

Frage: Warum eignen sich Computerspiele denn für den Religionsunterricht?

Zirpel: Ich würde jetzt nicht sagen, dass sie sich mehr für das eine als für das andere Fach eignen. Da kann jedes Fach seinen Teil daran mitnehmen. Was ich mit Blick auf den Religionsunterricht am interessantesten finde, ist, sich die Faszinationskraft anzuschauen, die diese Spiele ausüben. Da zu schauen, woran liegt das? Mal ganz ehrlich, für viele Jugendliche ist Religion nichts mehr, was sie unbedingt angeht, was sie fasziniert und interessiert. Zumindest die Aspekte nicht, die sie als Schülerinnen und Schüler offensichtlich damit gleichsetzen: Kirche, Bibel, Gottesdienst. Und genau da Formen und Anknüpfungspunkte zu finden, die spannend für die Schüler sind, das interessiert mich. Und da bieten Computerspiele eine große Chance.

Frage: Wo findet man Religion in Computerspielen? Und um was für Themen geht es?

Zirpel: Da gibt es ganz verschiedene Typen. Eine erste Ebene ist das ganz Offensichtliche. Dass da im Spiel eine Kirche vorkommt, ein Priester, ein Heiler, irgendwelche Segenssprüche – alles, was in den weiteren Raum von Religion passt. Dann gibt es Spiele, in denen religiöse Aspekte allgemeiner angesprochen werden. In sehr vielen Spielen gibt es zum Beispiel einen Erlöser oder eine Messiasfigur, in die der Spieler dann meist selbst hineinschlüpft. Plötzlich liegt es in der eigenen Hand, die Welt zu retten. Dann ist man auf einmal wahnsinnig wichtig. Gerade in Online-Rollenspielen kommen zudem Rituale vor. Ob das jetzt die Aufnahme in den Clan ist oder eine bestimmte Prüfung, die man ablegen muss. Ein Erlebnis hat mich zum Beispiel beim Online-Rollenspiel „World of Warcraft“ besonders fasziniert. Da haben Spieler einen virtuellen Trauermarsch für einen im realen Leben gestorbenen Jungen abgehalten. Es ist schon faszinierend zu sehen, wenn die Welten so verschwimmen. An so etwas hatten die Programmierer sicherlich nie gedacht.

Frage: Sie stellen in Ihrer Dissertation die These auf, dass Computerspiele im Religionsunterricht einen wichtigen Beitrag im Dialog mit jugendlichen Lebenswelten leisten können. Warum sollte diese Transferleistung denn gerade im Religionsunterricht stattfinden?

Zirpel: Da sind wir wieder bei der Faszinationskraft. Wenn Religionsunterricht sich damit beschäftigen soll, was Jugendliche angeht und sie dort abholen soll, wo sie stehen, dann müssen wir heute unbedingt die virtuellen Welten mitberücksichtigen, in der sich gerade Jungs viel bewegen. Ich habe schon von Gilden und Clans in Online-Rollenspielen erzählt. In diesen Gruppen kann ja auch viel Druck ausgeübt werden, oder es werden Regeln aufgestellt, die unmenschlich oder absolut nicht hilfreich sind. Das zu reflektieren und zu überlegen, ob das noch ein Verein ist, in dem ich meine Freizeit gerne verbringe, das stößt ja auch eine Wertedebatte an, die die Jugendlichen gut nachvollziehen können. Das Ganze mit einer sehr persönlichen Note zu versehen und nicht nur distanziert aus der Vogelperspektive zu betrachten, ich glaube das geht am besten im Religionsunterricht. Dabei lernen die Schülerinnen und Schüler dann auch sehr viel über Medienkompetenz und werden selbstbewusster in ihrer Mediennutzung. Und deshalb denke ich, dass der Religionsunterricht auf diesem Feld einen genuinen Beitrag leisten kann.

Frage: Sie stellen Bausteine vor, mit denen Computerspiele sinnvoll in den Religionsunterricht eingebaut werden können. Wie kann das gelingen? Und welche Rolle hat der Lehrer?

Zirpel: Der Lehrer ist Moderator und auch Fragensteller. Das kommt natürlich auch darauf an, wie fit man selbst in diesem Bereich ist. Man kann nur selten sagen: So ist das jetzt aber! Das ist eine sehr ungewohnte Rolle für einen Lehrer oder eine Lehrerin. Man muss seine Wissenshoheit aufgeben und sozusagen forschendes Lernen betreiben. Auf der anderen Seite ist es dann natürlich sehr wichtig, die Jugendlichen aktiv in die Unterrichtsgestaltung einzubinden. Dafür ist nicht unbedingt ein großer technischer Aufwand nötig. Schüler können zum Beispiel Präsentationen vorbereiten und in der Klasse vorstellen. Oder man nutzt Browserspiele, die im Computerraum der Schule gespielt werden können. Da muss nichts installiert werden und es kann direkt losgehen. Eine weitere Möglichkeit sind Projekttage, bei denen die Schüler selbst Arbeitsgruppen organisieren. Wenn man als Lehrer herausfinden möchte, welche Spiele die Jugendlichen gerade interessieren, lohnt sich zum Beispiel ein Blick auf YouTube.

Frage: Am Ende Ihrer Doktorarbeit fordern Sie Ihre Kollegen auf: „Game on!“. Warum sollten Religionslehrer mehr Computerspiele in den Unterricht einbinden? Welche Chancen bietet dieses Medium?

Zirpel: Dieses Medium birgt ein riesen Reservoir an Erfahrungen und Motivationen. Es fasziniert Kinder und Jugendliche und „geht sie unbedingt an“. Wenn man Computerspiele berücksichtigt, fühlen sich Schülerinnen und Schüler in ihren Lebenswelten ernstgenommen. Sich gemeinsam mit ihnen auf den Weg zu machen und versuchen einzuordnen, was in diesen virtuellen Welten passiert – das ist das Wichtigste daran.

Das Interview führte Maike Müller

 

Die Dissertation "Computerspiele im Religionsunterricht als Beitrag zum Dialog mit jugendlichen Lebenswelten" können Sie online lesen. Hier finden Sie die Arbeit frei zugänglich.

Die Druckausgabe kann über den Onlineshop des Verlags, per E-Mail oder den Buchhandel für 50,40 EUR zzgl. Versandkosten bestellt werden.

 

Mit dem Thema Medienpädagogik befassen sich zwei Publikationen der deutschen Bischöfe:

Virtualität und Inszenierung

Unterwegs in der digitalen Mediengesellschaft - Ein medienethisches Impulspapier -

Medienbildung und Teilhabegerechtigkeit

Impulse der Publizistischen Kom­mission der Deutschen Bischofs­kon­ferenz zu den Herausforderungen der Digitalisierung.

(Kostenloser Download für registrierte Nutzer*innen. Die Registrierung ist ebenfalls kostenlos.)

Folgen Sie rpp-katholisch.de via     Facebook     Twitter     Newsletter