Kummer, Krise, Katastrophe – all das bringen Kinder und Jugendliche mit zur Schule. Im Religionsunterricht ist der Platz dafür: für Anklagen, Ängste, Zweifel. Warum sollten große Kinderfragen unbedingt ein Thema im Religionsunterricht sein? Diese Frage haben wir Rainer Oberthür, Autor und Dozent für Religionspädagogik am Katechetischen Institut (KI) des Bistums Aachen, gestellt.
Die Frage nach dem Leid ist anspruchsvoll und komplex. Warum brauchen Religionslehrerinnen und -lehrer vor dieser Komplexität keine Angst zu haben?
Die Frage nach dem „Warum lässt Gott das Leid zu?“ ist bereits bei ganz jungen Kindern ein Thema. Schon Erst- und Zweitklässler stellen Fragen, die um Tod und Leid kreisen und oft auch in den Kontext der Gottesfrage gestellt werden. Im dritten und vierten Schuljahr werden diese Fragen noch umfassender: „Warum lässt Gott – wenn er denn ein lieber und starker Gott ist – das Leid zu?“
Und wenn Kinder Fragen stellen, egal in welchem Alter, dann haben sie das Recht auf eine Antwort. Als Religionslehrerinnen und -lehrer sollten wir uns – wie bei allen großen Fragen – positionieren und Antworten anbieten. Gerade in diesem speziellen Fall sollte diese Antwort nicht das Fragen beenden, sondern das Weiterfragen eröffnen.
Können Sie das näher erklären?
Letztendlich kann man die Frage nach dem Leid in der Welt gar nicht beantworten. Wir können und sollten darüber zwar viele Überlegungen und Spekulationen anstellen. Doch wer meint, die Theodizeefrage zu lösen und eine endgültige Antwort zu geben, der ist gescheitert, denn es gibt selbst vor dem Hintergrund unserer gesammelten biblischen und christlichen Quellen keine zufriedenstellende , problemlösende Antwort auf diese Frage.
Wenn selbst Erwachsene überfordert sind, wie kann man dann von einem Kind erwarten, diese Herausforderung anzunehmen? Sollten wir unsere Kinder vor solchen komplexen Themen nicht eher schützen?
Kinder beschäftigen sich gerne mit tiefgehenden Fragen. Und sie können diese Auseinandersetzung – trotz ihres geringen Alters und ihrer Unerfahrenheit, vielleicht gerade wegen ihrer damit verbundenen Unbefangenheit – intensiv führen, weil sie motiviert und interessiert sind. Wenn man Kindern den Raum eröffnet – also im Unterricht die Atmosphäre schafft, mit Hilfe unterschiedlicher Methoden, mit Geschichten oder beispielsweise auch mit Psalmwörtern – dann sprudeln viele indirekte und auch direkte Theodizeefragen aus Kindern heraus. Wie bereits im Religionsunterricht oft erfahren, bringt besonders die Hiob-Geschichte klassisch auf den Punkt, was schon Philosophen und Theologen, wie beispielsweise Epikur, vor vielen Jahrhunderten in Worte gefasst haben.
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Krise hat viele Gesichter – unser rpp-Unterrichtsmaterial
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Wie leiten Sie das Thema ein? Und welche Kinderfragen sind Ihnen schon begegnet?
Den Unterricht der Hiob-Geschichte haben wir beispielsweise mit einem Gedankenexperiment eröffnet, das nicht direkt auf die Theodizeefrage zielt: Stell dir vor, du begegnest Gott und kannst ihm Fragen stellen. Was würdest du ihn fragen?
Dann fragten unter anderem die Kinder auch: Warum werden Menschen krank? Warum lässt du es zu, dass es Krieg und Hungersnöte gibt? Warum lässt du nicht Frieden werden? Warum gibt es so viel Ausländerhass auf der Welt? Warum werden so viele Tiere getötet? Warum gibt es so viele Diebe und böse Menschen auf der Welt? Warum hast du böse Menschen erschaffen? Wieso liebst du auch den Mörder? Bestimmst du das Unglück, bist du die Hilfe?
Die Frage „Warum hast du böse Menschen erschaffen?“ finde ich persönlich sehr tiefgehend, weil diese Frage Gott selbst in die Pflicht nimmt. Die Kinder fragen eigentlich: Hätte Gott die Sache mit der freien Entscheidung zum eigenen Handeln – also ob ich gut oder böse handele – nicht irgendwie anders regeln können? Die Kinder wissen also intuitiv: Gutes oder böses Handeln ist irgendwie auch der Preis der Freiheit: Wir können nur gut sein, weil wir auch böse sein können, sonst könnten wir uns ja nicht wirklich entscheiden.
Also die Kinder geben eigentlich schon eine mögliche Antwort auf die Frage: Wenn ich einem anderen ein Leid zufüge, dann bin ich schuld an seinem Leid. Das Böse ist das, was der Mensch einem anderen antut, und hat nichts mit Gott zu tun?
Nur zum Teil. Die kindlichen Fragen drehen sich rund um das Leid: um Sterben, um Tod, um Krieg – also einerseits um vom Menschen verursachtes Leid und andererseits auch um Naturkatastrophen, die nicht Menschen gemacht sind. Kinder unterscheiden zwischen "natürlichen" Übel, dem "menschlichen" Bösen und all dem, was zum Menschen dazu gehört. Das ist die Sterblichkeit und Unzulänglichkeit des menschlichen Körpers. Darum wissen die Kinder. Oder sie haben es bereits selbst erfahren in ihrem Leben.
... und Kinder stehen heute ja auch schon in der Grundschule unter einem ganz anderen medialen Einfluss.
Ja, Handy, Internet und Video sind überall erreichbar und präsent. Kinder konsumieren sicherlich auch schon Falschinformationen. Gerade medial Vermitteltes beschäftigt Kinder durchaus sehr und verwirrt sie auch oft, weil sie Fake und Realität sicher noch weniger voneinander unterscheiden können als wir Erwachsenen.
Und natürlich bekommen die Kinder auch die weltpolitische Situation und den Krieg in Europa mit. Jetzt kommt zum Ukrainekrieg noch das fürchterliche Massaker der Hamas an den Juden in Israel hinzu. Aktuelle Entwicklungen beschäftigen Kinder unmittelbar, genauso wie uns Erwachsene auch. Es ist ein Irrtum zu glauben, Kinder bekämen nicht mit, was um sie herum passiert.
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Unser rpp- Unterrichtsmaterial zum Krieg im Nahen Osten und der Ukraine
"Warum haben wir Krieg, wenn sich doch eigentlich alle nur Frieden wünschen?" – Die sicherheitspolitische Situation, der Krieg zwischen Russland und der Ukraine und im Nahen Osten zwischen Israel und der Hamas, lässt Kinder viele Fragen stellen. Wie sollen Lehrerinnen und Lehrer diesen Fragen im Unterricht begegnen? Schauen Sie doch mal rein!
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Wie begegnen Sie der Problematik im Unterricht, dass die Theodizeefrage unbeantwortet bleibt? Wie verhindern Lehrerinnen und Lehrer, dass die Kinder mit einem schlechten Gefühl nach Hause gehen?
Kinder können sehr gut damit umgehen, wenn Fragen offenbleiben. So erfahren sie, ihre Fragen sind bedeutsam und fühlen sich dadurch ernst genommen und wertgeschätzt. Es ist auch von Seiten der Lehrerin oder des Lehrers vollkommen in Ordnung zu vermitteln, dass es Fragen gibt, auf die man selbst als Erwachsener keine endgültige Antwort hat. Gerade im Religionsunterricht sollte der Platz für solche Themen sein. Das macht auch eben den Wert des Religionsunterrichtes aus: Er ist der Ort für letztlich unentscheidbare Fragen, zu denen wir aber gemeinsam eine Haltung entwickeln können.
Im Mathematikunterricht wird man vieles schnell klären können. Wer es dann innerhalb eines vorgegebenen Systems verstanden hat, der muss den Weg zur Antwort nachvollziehen können. Das ist aber im Religionsunterricht komplexer. Oft bieten wir Religionslehrerinnen und -lehrer "nur" Antwortversuche an und nehmen unsere Ratlosigkeit mit in den Prozess.
Welche Antworten bieten Sie als Religionslehrer Kindern auf die Frage nach dem Leid in der Welt an?
Wir haben im Unterricht Folgendes diskutiert: Gott bestraft die Bösen und belohnt die Guten. Diesen Ansatz haben Kinder immer kritisch betrachtet. Kinder wissen: Das stimmt ja so gar nicht. Es gibt auch die Unschuldigen, die leiden. Und es gibt den Schuft, dem es gut geht und der nicht bestraft wird. Außerdem finden sie diese These nicht gut, weil sie nicht daran glauben, dass Gott sich so verhalten würde. Gott bietet auch den Bösen immer die Möglichkeit der Umkehr an.
Die zweite Aussage, die ich diskutiere, ist: Was Menschen sich gegenseitig antun, dürfen wir Gott nicht vorwerfen. Gott hat eine Welt erschaffen mit Menschen, die sich selbstbewusst und frei für ihr Handeln entscheiden können. Dieser Antwortweg wird von den Kindern positiv beschieden. Trotzdem muss man Gott die Frage stellen: Hätte er das nicht anders hinkriegen können? Diese Antwort löst also auch nicht das Problem.
Ein weiterer Ansatz ist: Gott ist unendlich gut, aber seine Stärke ist anders als die Macht von Menschen. Wenn Menschen leiden, leidet Gott selbst mit ihnen. Immer ist Gott bei den Menschen, denen Leid und Unrecht geschieht. Diesen Weg haben die Kinder sehr befürwortet. Sie alle haben schon Erfahrung damit gemacht, wie heilsam das Verzeihen und das Sich-gegenseitig-unterstützen und Trösten sein kann. Diese Antwort bejahe ich auch theologisch: Doch auch sie löst nicht das Problem.
Also gelangen wir schließlich zu der Erkenntnis: Wir können das Leid und das Böse überhaupt nicht verstehen und erklären. Wir wissen nicht mit unserem menschlichen Verstand, warum Gott das Leid zulässt. Aber wir dürfen ihn danach fragen und wir dürfen uns auch bei ihm darüber beklagen.
Dieser Weg fand Zustimmung bei den Kindern, wobei sie mit dem Klagen und Schimpfen gegenüber Gott Hemmungen haben. Gott hat nämlich so viel Gutes getan. Beim Einüben des Klagens helfen dann die Psalmen oder das Buch Hiob. Doch am Ende löst auch diese Einsicht nicht das Problem.
Als Religionslehrerin oder -lehrer muss man aber dann auch sehr sensibel sein. Je nachdem, was in der Klasse oder beim Einzelnen gerade Thema ist und was es von zuhause mitbringt, kann eine Theodizee-Unterrichtseinheit doch ganz schnell ein Desaster werden?
Man sollte als Religionslehrerin und -lehrer seine Klasse schon ganz genau kennen und wissen, was gerade so Thema für die Kinder ist. Ich habe es schon oft erlebt, dass etwas sehr Persönliches von den Kindern auch geäußert wird.
Doch obwohl man feinfühlig mit dem Thema umgehen muss, stehe ich dazu, dass man den Kindern im Religionsunterricht den Raum geben muss, diese Fragen zum Leid zu stellen. Und allein das Aussprechen und dem Unbekannten eine „Wortgestalt“ geben, kann schon eine Hilfe sein. Die Psalmen demonstrieren das: Die Klage wird ausgesprochen, das Problem wird nicht unbedingt gelöst, und trotzdem geht es dem Beter deutlich besser.
Unsere Kinder fanden es gut, dass bei den Psalmen nicht nur die guten Seiten im Leben, sondern auch die schwierigen Seiten vorkommen. Ein Kind meinte: „Mit den Psalmen kann man so alles rauslassen!“ Das ist es doch, was unser Glaube anbietet. Nicht die Illusion: Wenn du an Gott glaubst, dann wird dir nichts Schlimmes passieren. Gott wird dich immer auffangen und vor allem Bösen und Schlimmen bewahren. Sondern: Gott ist bei dir und zeigt dir einen besseren Umgang mit der Situation. Wir können gerade in einer leidvollen Situation unseres Lebens erfahren, dass Gott dann ganz besonders nah bei uns ist. Gott dabeihaben, heißt nicht: Alle Probleme lösen.
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Zur Person:
- Rainer Oberthür, 1961 geboren,
- Er ist seit 1989 Dozent für Religionspädagogik am Katechetischen Institut (KI) des Bistums Aachen und war bis 2020 stellvertretender Leiter des KI.
- Bis 2017 war er Lehrbeauftragter für Religionspädagogik und Religionsdidaktik an der Bergischen Universität Wupperal und von 2000-2022 Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Katechetischen Blätter.
- Rainer Oberthür ist außerdem Autor des Kösel-Verlags und des Gabriel-Verlags und schreibt „Bücher für Kinder und alle im Haus“ zu den großen Fragen, zu philosophischen, biblischen und theologischen Themen.
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Also wenn man über Theodizee mit Erwachsenen diskutiert, dann ist die Gefahr größer, dass diese traurig nach Hause gehen?
So einfach würde ich das nicht ausdrücken. Kinder begegnen einem oft mit pragmatischen Aussagen, wie zum Beispiel: Die Menschen müssen halt sterben, denn sonst wäre die Erde irgendwann zu voll. Wo sollen die alle hin, wenn immer mehr dazukommen?! Das heißt aber nicht, dass Kinder vom Tod emotional nicht sehr betroffen sind. Sie leben halt viel mehr im Augenblick, in der Gegenwart.
Ich habe einmal erlebt, dass ein Kollege im Rahmen eines Unterrichts vom Tod seines Vaters erzählt hat. Und dann sind Gespräche entstanden und bis zum Ende der Stunde war immer ein Kind am Weinen, und die anderen haben getröstet. Als wir diese Situation am Folgetag noch einmal aufgegriffen haben, betonten die Kinder: „Das war gut. Uns ging es doch danach besser!“ Wahrscheinlich sind das eher wir Erwachsenen, die so etwas nicht so gut aushalten können.
Kinder sind gleichzeitig Realisten und auch Philosophen, Theologen und Mystiker: Sie wollen alles konkret begreifen, kennen sich schon ganz gut im Leben aus und hinterfragen alles. Aber sie haben auch diesen besonderen Sinn für den Sinn hinter allem Sinn, wenn man es so ausdrücken kann. Und das passt einfach schön zusammen. Da brauchen wir uns als Lehrerin oder Lehrer also gar nicht so zu sorgen.
Ein Interview von Claudia Klein
(ck)