Evolution statt Revolution: Der Informatiker Christian Spannagel plädiert für einen unaufgeregteren Umgang mit dem Textgenerator ChatGPT. KI-Systeme würden nicht dazu führen, dass Lernen ganz neu gedacht werden müsse, schreibt der Professor für Mathematikdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg in einem Gastbeitrag auf hochschulforumdigitalisierung.de. Er stellt drei Ansätze vor, wie kognitive Tools praktisch in Lernprozesse integriert werden können.
Von Prof. Dr. Christian Spannagel
Das KI-System ChatGPT und seine Auswirkungen auf das Bildungssystem sind in letzter Zeit Gegenstand zahlreicher Berichte in den Medien. Die Diskussionen dazu sind vielfach emotional aufgeladen, und nicht selten findet man darin Extrempositionen vertreten: Die einen fordern Verbote von KI-Werkzeugen in den Bildungsinstitutionen, die anderen verlangen eine ganz neue Ausrichtung des Bildungssystems. Vieles davon erscheint überzogen. Ich schlage stattdessen vor, dass wir alle einmal einen Schritt zurücktreten und die Entwicklung nüchtern und rational betrachten. Es ist gut, dass die Existenz neuer Werkzeuge wie etwa ChatGPT die gesellschaftliche Diskussion über Bildungsziele und Bildungsprozesse anregt. Schließlich bieten neue Technologien Chancen, das Lernen und Lehren in Schulen und Hochschulen vor dem Hintergrund einer zunehmend von Digitalisierung geprägten Welt weiterzuentwickeln. KI-Systeme werden meiner Ansicht nach aber nicht dazu führen, dass das Lernen „ganz neu gedacht“ werden muss. Denn auch wenn KI-Systeme wie ChatGPT eine neue Qualität in der Interaktion zwischen Mensch und Computer bieten und wirklich Beeindruckendes leisten, so ist die Verfügbarkeit eines neuen Werkzeugs in Bildungskontexten natürlich kein neues Phänomen.
Einen geeigneten theoretische Rahmen hierfür bietet der Ansatz der verteilten Kognition (engl. distributed cognition; Salomon, 1993; Hutchins & Klausen, 1996). In diesem Ansatz werden Prozesse der Informationsverarbeitung und der Speicherung von Wissen nicht nur innerhalb „des Kopfes“ einer einzelnen Person verortet. Stattdessen findet Kognition verteilt in einem System statt, das aus einer oder mehreren Personen, aus Werkzeugen und/oder aus Artefakten besteht. Zwei Beispiele:
- Ich notiere mir eine Telefonnummer in meinem Notizblock. Wenn man mich und meinen Notizblock als System betrachtet, dann ist die Nummer fortan im Gedächtnis des Systems gespeichert, selbst wenn ich sie mir nicht in meinem eigenen Gedächtnis behalten habe.
- Ich setze meine Buchführung in einem Tabellenkalkulationsblatt um. Dieses führt für mich automatisch Berechnungen durch, und ich kümmere mich stattdessen um die inhaltliche Finanzplanung. Mein Tabellenkalkulationsprogramm und ich bilden ein System, in dem wir gemeinsam die notwendigen Informationsverarbeitungsprozesse durchführen.
Das Werkzeug wird dabei zu meinem Denkpartner. Computer können uns sehr gut viele aufwändige Berechnungen abnehmen, sodass wir uns höheren kognitiven Prozessen widmen können. Dies nennt man Computational Offloading.
In der Vergangenheit sind immer wieder neue Werkzeuge entwickelt worden, die uns kognitive Teilprozesse abgenommen haben, etwa der Rechenschieber, der Taschenrechner, der Heimcomputer mit zahlreichen Anwendungen, das Internet, die Wikipedia und das Smartphone. KI-Anwendungen wie ChatGPT sind ebenfalls Werkzeuge, die versprechen, uns kognitive Prozesse abzunehmen, die wir bislang immer selbst durchführen mussten. Für die Bewältigung von Situationen im Alltag und Beruf kann dies eine großartige Hilfe sein. Es gibt keinen Grund, diese kognitiven Werkzeuge nicht einzusetzen, wenn sie einem eine bestimmte Aufgabe abnehmen. Warum sollte man das auch? Prozesse, die man an die Werkzeuge abgeben kann, belasten nicht unser eigenes kognitives System, und man kann sich anderen Dingen widmen. Menschen werden sich zukünftig also Briefe an Ämter, Bewerbungsschreiben und Festtagsreden von KI-Systemen verfassen lassen, Softwareentwickler:innen werden KI-Werkzeuge nutzen, um Code zu schreiben, Testfälle zu erzeugen und Bugs zu finden, und Lehrer:innen werden KI verwenden, um Prüfungsaufgaben zu entwickeln, Unterricht zu planen und kindgerechte Erklärungen zu generieren.
KI-Systeme in Lernkontexten
Einzig in Lernkontexten erzeugt das Aufkommen eines neuen kognitiven Werkzeugs ein spezielles Problem. Zunächst einmal ist es natürlich auch bei Lernprozessen zu begrüßen, wenn kognitive Werkzeuge durch Computational Offloading Raum dafür schaffen, dass sich Lernende mit höheren kognitiven Prozessen befassen können. So können sich beispielsweise Schüler:innen durch die Verwendung von Tabellenkalkulationssystemen und dynamischen Geometrieprogrammen im Mathematikunterricht höheren mathematischen Fragestellungen widmen. Auch ChatGPT wird gewisse kognitive Prozesse übernehmen, zum Beispiel als Schreibassistent, um eine Schreibblockade zu überwinden und einen ersten Entwurf eines Texts zu erstellen, der anschließend von den Schüler:innen oder Student:innen inhaltlich weiterentwickelt wird. Problematisch wird die Existenz eines solchen Werkzeugs aber dann, wenn die Lernenden gerade diejenigen Kompetenzen erwerben sollen, welche von der KI auf Knopfdruck erledigt werden können. Das kognitive Tool soll die Lernenden schließlich beim Lernen unterstützen, es darf ihnen nicht den Lernprozess abnehmen. Das ist ein ernstzunehmendes Problem. Es gibt meiner Ansicht nach drei Ansätze, wie man darauf reagieren kann:
Ansatz 1
Man einigt sich darauf, dass die entsprechenden kognitiven Prozesse kein Lernziel mehr sein sollen, weil KI-Systeme diese erledigen können. Ich bin allerdings überzeugt davon, dass dies in vielen Fällen nicht der richtige Weg ist. Die Vergangenheit hat dies auch mehrfach gezeigt: Die Existenz des Internets etwa hat nicht dazu geführt, dass Menschen nichts mehr wissen müssen, weil man sich ja schließlich alles „ergooglen“ könne. Dies ist nicht geschehen, weil man Informationen auf Webseiten wie Wikipedia nur verstehen kann, wenn man Vorwissen hat. Die Existenz von Taschenrechnern und Tabellenkalkulationssystemen hat ebenso nicht dazu geführt, dass Menschen nicht mehr lernen müssen zu rechnen. Schließlich braucht man eine Vorstellung von Zahlen und Rechenoperationen, um zu wissen, was gerechnet werden muss, und um Ergebnisse interpretieren zu können. Wer nicht gelernt hat mit Prozentsätzen zu rechnen, wird kein Tabellenkalkulationsblatt erstellen können, das ihm die Prozentrechnung abnimmt. Darüber hinaus ist ein Hauptargument gegen Ansatz 1, dass Menschen nicht von Technologie abhängig sein dürfen. Pilot:innen müssen ein Flugzeug auch manuell landen können, falls die Technik im Cockpit versagt. Und ebenso müssen Menschen in der Lage sein und bleiben, einfache Rechnungen selbst durchzuführen und Texte eigenständig und ohne KI-Systeme zu formulieren. Sicher wird es zu einigen Verschiebungen bei Lernzielen kommen, und das muss es auch: Wenn kognitive Tools es ermöglichen, dass sich Lernende höherwertigen Prozessen widmen können, dann können diese nicht einfach „on top“ zum Lehrplan dazukommen. Insofern müssen Basiskompetenzen, die von Tools übernommen werden können, zukünftig vermutlich nicht mehr bis in alle Feinheiten und Sonderfälle verstanden werden. Wer aber entweder befürchtet oder verlangt, dass Menschen wegen der Existenz von kognitiven Werkzeugen wie ChatGPT nicht mehr lernen müssen, eigenständig Texte zu formulieren, der hat nicht verstanden, dass kognitive Werkzeuge von Menschen in der Regel nur dann sinnvoll benutzt werden können, wenn sie eine Vorstellung von den kognitiven Prozessen haben, von denen sie durch das Tool entlastet werden. Softwareentwickler:innen werden beispielsweise den von ChatGPT erstellten Code im eigenen Softwareprojekt nur dann verwenden können, wenn sie selbst programmieren und dadurch erst das Ergebnis von ChatGPT bewerten können. Und überhaupt gilt: Nur Menschen, die gelernt haben, Texte zu formulieren, werden sich auch niveauvoll unterhalten können. Niemand wird im persönlichen Gespräch mit einem Mitmenschen eine KI bitten, den eigenen Standpunkt vorzuformulieren.
Ansatz 2:
Wenn man hingegen der Auffassung ist, dass die entsprechenden Kompetenzen weiterhin von den Lernenden erworben werden müssen, dann müssen die Lernenden davon überzeugt werden, dass es sinnvoll ist, sich diese Mühe zu machen. Kritisch dabei sind in der Schule die Hausaufgaben und in der Hochschule das Selbststudium, denn dies sind die Situationen, in denen man mit KI-Tools einfach „cheaten“ kann. Viele Lehrende werden vermutlich mit dem Argument zu überzeugen versuchen, dass in der Prüfung (zum Beispiel in einer Klausur) keine Hilfsmittel zugelassen sein werden: Einen bestimmten Prozess in einer Prüfungssituation erstmals selbst durchzuführen, weil man ihn vorher immer an eine KI abgegeben hat, ist eine denkbar schlechte Strategie. Neben diesen an extrinsischer, durch Fremdbestimmung gekennzeichneter Motivation ansetzenden Maßnahmen können aber auch Motivierungsstrategien eingesetzt werden, welche eher selbstbestimmte Formen von Motivation erzeugen. Nach Deci und Ryan (2000) sind Menschen dann wahrscheinlicher selbstbestimmt motiviert, wenn sie sich autonom, kompetent und sozial eingebunden fühlen. Hier können Maßnahmen ansetzen, um Schüler:innen und Student:innen zu motivieren: Diese fühlen sich autonomer, wenn sie selbst Entscheidungen treffen können und diese nicht an ein KI-System abgeben. Wer sich abhängig von Technologie macht, büßt an Autonomie ein. Wenn Aufgaben und Lernsituationen so gestaltet sind, dass die Lernenden Erfolgserlebnisse haben, dann fühlen sie sich zudem kompetent. Wer stattdessen aufgibt und den Prozess durch eine KI ausführen lässt, wird sich bezüglich dieses Prozesses nicht als kompetent erleben. Darüber hinaus führt das Gefühl, Teil einer Gruppe zu sein, die sich gemeinsam den Herausforderungen stellt, zu Motivation (Dies wird in Ansatz 3 aufgegriffen). Vermutlich muss man sich aber eingestehen, dass man nicht alle Lernenden durch solche Motivierungsmaßnahmen erreichen wird. Der eine oder die andere wird aus zeitökonomischen Gründen bei den Hausgaben doch zur KI greifen.
Ansatz 3:
Eine dritte Möglichkeit ist, den Erwerb von Kompetenzen, die einem eine KI abnehmen könnte, in die Präsenz zu verlagern. Dies ist die Kernidee der Methode Inverted Classroom bzw. Flipped Classroom: Die Schüler:innen oder die Student:innen führen die zu erlernenden Prozesse in der Präsenzsitzung durch, nach dem sie sich zu Hause darauf vorbereitet haben. Im Klassenzimmer oder Seminarraum fällt es schon eher auf, wenn sie ein KI-System zum Lösen einer Aufgabe einsetzen, die sie eigentlich selbst lösen sollen. Darüber hinaus bietet dieses Modell den Vorteil, dass sie die Aufgaben gemeinsam mit ihren Mitschüler:innen bzw. Kommiliton:innen bearbeiten können. Sie können sich so gegenseitig unterstützen. Außerdem ist die Lehrkraft anwesend, um ihnen Fragen beantworten und ihnen weiterhelfen zu können. Darüber hinaus ist der Einsatz des Inverted-Classroom-Modells auch in Situationen von Vorteil, in denen die Lernenden höherwertige Kompetenzen unter Verwendung von KI-Systemen erwerben sollen. Auch dies könnte in der Präsenz geschehen, gemeinsam und unter Anleitung der Lehrperson, die dabei helfen kann, mit dem KI-System zu guten Ergebnissen zu gelangen.
Diese drei Ansätze schließen sich nicht gegenseitig aus, sie können kombiniert werden: Es wird zu Verschiebungen bei den Lernzielen kommen, aber Basiskompetenzen in bestimmten Bereichen müssen die Lernenden trotz KI weiterhin erwerben. Lehrkräfte müssen Schüler:innen bzw. Student:innen motivieren, diese Basisfähigkeiten zu lernen, und sie können das vielleicht am besten, wenn diese Kompetenzen in der Präsenz erworben, vertieft und geübt werden.
Die Existenz neuer kognitiver Werkzeuge hat natürlich auch Konsequenzen auf die Prüfungen. Dies wird in vielen Berichten zu ChatGPT thematisiert. Aber auch hier sehe ich keinen Grund für eine Umwälzung des Bildungs- bzw. Prüfungssystems. Mündliche Prüfungen sind von ChatGPT nicht betroffen, sie können weiterhin wie gehabt durchgeführt werden. Auch Klausuren wird man weiterhin ohne Probleme durchführen können, etwa wenn keine Hilfsmittel erlaubt sind. Ein bisschen komplizierter könnten zukünftig Klausuren werden, wenn man sowohl Basiskompetenzen ohne Nutzung von KI als auch höherwertige Kompetenzen mit Nutzung von KI abprüfen möchte. Das ist aber auch nichts Neues: Bislang gab es auch schon Klausurmodelle, in denen in bestimmten Abschnitten Taschenrechner erlaubt waren und in bestimmten nicht. Genauso wird man das mit KI-Systemen handhaben können. Einzig problematisch werden Hausarbeiten und Abschlussarbeiten sein. Hier wurde schon vielfach vorgeschlagen, dass man diese durch eine mündliche Testsituation (ähnlich der Disputation bei der Promotion) ergänzen könnte, in der die Prüflinge ihre Ergebnisse verteidigen müssen und in der auch der Entstehungsprozess der Arbeit thematisiert wird.
Lehrende sind nun also zukünftig gefordert, KI-Werkzeuge als weiteres kognitives Tool in Lehre und Prüfungen zu berücksichtigen. Ich habe beispielsweise Rules for Tools für meine Lehrveranstaltungen formuliert. Vielleicht führt auch die Existenz von ChatGPT und Co. dazu, dass Lehrende die Lernziele ihrer Lehrveranstaltungen neu justieren und ihre Lehrmethodik weiterentwickeln. Es wird in Schulen und Hochschulen aber weder einen Zusammenbruch des Prüfungswesens noch eine Umwälzung der Curricula geben. Es wird sich um eine kontinuierliche Weiterentwicklung handeln, in der zukünftig KI eine ganz natürliche Rolle neben Tabellenkalkulation und Rechtschreibkorrektur einnehmen wird. Auf diese Entwicklung bin ich gespannt.
PS: Ich war sehr unkreativ beim Finden eines Titels für diesen Blogbeitrag. Deshalb stammt der Titel von ChatGPT.
Referenzen
Deci, E. L. & Ryan, R. M. (2000). The “What” and “Why” of Goal Pursuits: Human Needs and the Self-Determination of Behavior. Psychological Inquiry, 11(4), 227-268.
Hutchins, E. & Klausen, T. (1996). Distributed cognition in an airline cockpit. In Y. Engeström & D. Middleton (Hrsg.), Cognition and communication at work (S. 15-34). Cambridge: Cambridge University Press.
Salomon, G. (1993). Distributed cognitions: Psychological and educational considerations. Cambridge: Cambridge University Press.
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