Klimawandel, Ukraine-Krieg, Corona-Pandemie: Junge Menschen sind heute mit vielfältigen Krisen konfrontiert. Claudia Gärtner ist Professorin für Praktische Theologie an der Technischen Universität Dortmund und beschäftigt sich unter anderem mit religiöser Bildung für nachhaltige Entwicklung. Im Interview macht sie sich für einen stärker politisch ausgerichteten Religionsunterricht stark und zeigt, welche Ressourcen das Fach für ein Leben in und mit Krisen birgt.
Frage: Sie nutzen in Ihrer Arbeit den Begriff der „religiösen Bildung für nachhaltige Entwicklung“. Welche Perspektiven kann das Christentum der „allgemeinen“ Bildung für nachhaltige Entwicklung hinzufügen?
Claudia Gärtner: Ich würde mit Johann Baptist Metz anfangen, der die beiden Begriffe von Mystik und Politik als Grundcharakteristika von Religion und Christentum ins Gespräch gebracht hat. Diese zeigt sehr schön zwei Pole auf, die auch religiöse Bildung betonen kann. Einerseits geht es in religiöser Bildung darum, Heranwachsende – und auch Erwachsene in der Erwachsenenbildung – zu befähigen, spirituelle, religiöse Ressourcen und eine Gemeinschaftsform im Umgang mit Krisen und Herausforderungen für sich zu erschließen, wenn sie es möchten.
Andererseits ist dem Christentum immer auch eine politische Komponente inne. Also das Christentum auch als einen Ort zu verstehen, wo durch religiöse Tradition, durch Lehre, durch die Botschaft des Reiches Gottes, kritische Impulse in die Gesellschaft hineingespielt werden können. Eine Perspektive, die zeigt, dass eine andere Form von Leben möglich ist, dass auch eine andere Form von Gesellschaft möglich ist. Diese Spannung von Mystik und Politik ist etwas, das wir in dieser Form in einer anderen Fächerkultur mit Blick auf die Schule so nicht finden. In der politischen Bildung besteht immer die Frage, wie neutral diese eigentlich sein muss. Da kann religiöse Bildung als ein konfessionelles und bekenntnisorientiertes Fach eine Tradition, Inhalte, Werte und eine ethische Positionierung anbieten, die andere Fächer so nicht bieten können.
Frage: Religiöse Bildung kann die Krisen dieser Welt nicht lösen. Wie kann religiöse Bildung aber dabei helfen mit den multiplen Krisen unserer Zeit – also Klima, Corona, Krieg – umzugehen?
Claudia Gärtner: Das knüpft an das an, was ich gerade gesagt habe. Für mich haben Religionen zum einen ein spirituelles Potenzial, wo ich auftanken kann, wo ich mich vergewissern kann, wo ich Kraft schöpfen kann, entweder in der religiösen Gemeinschaft oder in meiner Beziehung zu Gott, zu einer Transzendenz. Denn Religion bietet die Vision, dass diese Welt nicht alles ist und dass ein anderes Leben mit einer weniger kompetitiven und materialistischen Welt möglich ist.
"Verändertes Handeln entsteht in Gemeinschaftsformen, indem ich mich vergewissere, dass andere ähnlich denken und tun."
Die zweite Ressource ist die Vergemeinschaftung. Wir wissen aus der Umweltpsychologie, dass es einen riesigen Gap gibt zwischen dem, was ein Individuum denkt und weiß und dem, wie er oder sie dann tatsächlich handelt. Verändertes Handeln entsteht in Gemeinschaftsformen, indem ich mich vergewissere, dass andere ähnlich denken und tun. Schulgemeinschaften und religiösen Gemeinschaften liegt da ein hohes Potenzial inne, weil ich dort mit Menschen zusammenkomme, die eine ähnliche Werteorientierung haben oder ein ähnliches Verständnis von Leben. Das kann das eigene Handeln verändern.
Und nicht zuletzt haben Kirchen immer noch ein weltweites Netzwerk sowie enorme materielle Ressourcen zur Verfügung. Das fängt an beim Gemeindesaal, indem man sich treffen kann und reicht bis zum Internetportal, worüber Dinge kommuniziert werden. Das sind Strukturen, die in vielfältiger Weise genutzt werden können: Zur Vergemeinschaftung, zum Austausch von Ideen, zum gemeinsamen Einsatz für eine transformierte Gesellschaft.
Frage: Ist das im schulischen Religionsunterricht bereits angekommen oder ist da noch Luft nach oben?
Claudia Gärtner: Wir haben im Religionsunterricht eine lange Tradition, um im Rahmen von Schöpfungstheologie über Fragen von Umwelt und Klima nachzudenken. Da gibt es eine Menge an Wissen und Erfahrung, woran eine religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung wunderbar anknüpfen kann. In den Materialien, die in den letzten Jahrzehnten zu diesem Thema veröffentlicht wurden, ist allerdings eine Reduktion und Fokussierung auf lokales und individuelles Handeln zu beobachten. Ganz klischeehaft werden Schulklassen dann aufgefordert, auf dem Schulhof Müll zu sammeln und Wasser zu sparen. Das sind gute und wichtige Impulse, die aber den riesigen Anforderungen durch die Klimakrise nicht gerecht werden. Statt die Verantwortung allein dem einzelnen Individuum zuzuschreiben, müssen wir auch die Strukturen in der Gesellschaft ändern. Denn der oder die einzelne wird diese Klimakrise nicht verändern können. Dafür braucht es einen gesellschaftlichen Umbau. Und da sehe ich tatsächlich noch Luft nach oben insofern, dass die religiöse Bildung stärker auf die Visionen vom Reich Gottes, von Gesellschaftsordnung in der jüdisch-christlichen Tradition schaut. Da haben wir eine ganz andere Form von Gemeinschafts- und Gesellschaftsvorstellungen als wir sie derzeit in Deutschland und im globalen Norden leben. Das wäre ein Impuls für eine stärker politisch ausgerichtete religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung als wir diese zurzeit sehen.
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Frage: Welche Traditionen gibt es im Christentum, die beim Umgang mit Krisen helfen können? Und spielte nachhaltiges Leben in der Bibel eine Rolle?
Claudia Gärtner: Da gibt es viele. Ich will mich auf zwei fokussieren. Zum einen hat mich eine Sache sehr stark beeindruckt: Es gibt ein Plakat, das auf Fridays for Future-Demonstrationen häufig zu sehen ist, mit der Aufschrift: „We are unstoppable. Another world is possible.“ Diese Jugendlichen suchen nach einer anderen Weltordnung. Und dieser Satz könnte genauso gut über der jüdisch-christlichen Botschaft stehen. Ich bin zutiefst davon geprägt, dass wir eine Vorstellung von Transzendenz, von Alterität haben, dass das hier auf Erden nicht alles ist, sondern, dass wir auf ein Reich Gottes hinstreben, in dem ein anderes Leben möglich ist. Ich glaube, dass ein Hoffnungspotenzial darin liegt, dass wir uns nicht mit einer Alternativlosigkeit zufriedengeben. Das ist eine enorme Ressource: Die Vorstellung, dass es auch anders geht. Und dass wir nicht auf das reduziert sind, was hier und jetzt ist.
"Tag der Bildung" in Limburg
Der „Tag der Bildung“ am 16. September im Limburg nimmt das Thema religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung in den Blick. Im Rahmen des Kreuzfestes im Bistum Limburg lädt das Dezernat Schule und Bildung Religionslehrerinnen und Religionslehrer sowie Lehrkräfte an Katholischen Schulen zu der Veranstaltung unter dem Motto „Erneuere das Angesicht der Erde!“ (Ps 104) ein. Am Vormittag wird Claudia Gärtner einen Vortrag zum Thema „Die Klimakatastrophe als Herausforderung für Kirche und Religionsunterricht“ halten und Teil des anschließenden Podiums sein. Alle weiteren Informationen gibt es online.
Das zweite ist eine Fokussierung auf das, was man im Transformationsdiskurs Suffizienz nennt. Also genügsam zu werden und sich die Frage zu stellen, was es eigentlich für ein gutes Leben braucht. Das kam auch in der Corona-Krise auf. In der Bibel und der jüdisch-christlichen Botschaft haben wir eine breite Tradition zum freiwilligen Verzicht, zu einer freiwilligen Armut. Total radikal wie bei Franziskus, aber auch darin, dass Menschen sich auf das Notwendige fokussieren, um frei für die wirklich wichtigen Dinge zu sein. In der religiösen Tradition würde das bedeuten, frei zu sein für Gott. Aber das können wir auch auf das materielle Leben auf der Erde übertragen. Verzicht, der oft so negativ geframed ist – kann dann positiv gedeutet werden: Verzicht als eine Form von Freiheit. Das zieht sich durch die jüdisch-christliche Tradition.
Frage: In Ihrem Buch „Klima, Corona und das Christentum – Religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung in einer verwundeten Welt“ (2020) sprechen Sie ein weiteres Plakat von einer Fridays for Future-Demonstration mit der Aufschrift „Warum heute zur Schule gehen, wenn ich morgen keine Welt mehr habe?“ an. Was würden Sie darauf antworten?
Claudia Gärtner: Wissensvermittlung ist weiterhin extrem wichtig, natürlich. Gleichzeitig erleben wir, dass unser Wissen und unsere Weltvorstellungen tagtäglich auf den Kopf gestellt werden – auch durch die Corona-Pandemie und den Ukraine-Krieg. Ich glaube, dass Schule viel stärker noch als bisher Schüler:innen befähigen muss, sich aktiv partizipativ einzubringen. Damit sie nicht nur auf die kommenden Veränderungen reagieren können, sondern sich als kritische, emanzipierte Bürger:innen für ihre eigenen Belange stark machen. Das ist wieder ein Impuls hin zum Politischen.
"Ich glaube, dass Schule viel stärker noch als bisher Schüler:innen befähigen muss, sich aktiv partizipativ einzubringen."
Darüber hinaus sollte Schule zunehmend als Ort wahrgenommen werden, an dem emotionale Sorgen, Ängste und Nöte artikuliert und auch bearbeitet werden können. Da hat der Religionsunterricht ein großes Potenzial, weil dort ethische, moralische, soziale und auch emotionale Fragen thematisiert werden. Ich denke, das ist wichtiger als je zuvor. Denn viel von der Verdrängung beziehungsweise Reaktanz, die wir Klimafragen derzeit sehen, ist auch eine Überforderungs- und Vermeidungsstrategie. Wenn ich mich radikal den aktuellen Herausforderungen stelle, verunsichert mich das natürlich auch massiv. Und für diese Erfahrungen braucht es einen Ort, um darüber zu sprechen. Dann macht Schule auch Sinn, wenn wir diese Orte schaffen.
Frage: Wie können Religionslehrerinnen und Religionslehrer das im Unterricht konkret umsetzen? Haben Sie Tipps für die Praxis?
Claudia Gärtner: Rezepte sind immer schwierig. Es ist wichtig, heterogenitätssensibel zu schauen, welche Schüler:innen sitzen eigentlich vor mir? Wenn ich in einer Klasse mit ökonomisch eher schwächer gestellten Schüler:innen unterrichte, kann ich nicht anfangen, auf einen biologisch-ökologischen Lebensstil zu verweisen und sagen: Kauft bitte Bio-Obst und fliegt nicht mehr so viel. Das sind nicht die Sorgen und Nöte in einer solchen Klasse. Da geht es eher um die Frage, wie ich in meiner 40 Grad heißen Zwei-Zimmer-Dachgeschosswohnung den Sommer überstehen kann. Was ich damit sagen will: Bei dem einen geht es vielleicht um die Teilhabe an politischen Prozessen und selbstgewählten Verzicht. Bei dem anderen steht eher die Frage im Raum, welche Ressourcen er oder sie braucht, um einigermaßen gesund und gut leben zu können. Wir müssen also verstärkt die Diversität der Schüler:innen in den Blick nehmen. Wir wissen, dass die umweltbewussten Schüler:innen derzeit aus dem Gymnasialbereich und dem bildungsbürgerlichen Milieu kommen. Das ist auch die Kohorte, die bei Fridays for Future mitdemonstriert. Das ist aber nicht der Querschnitt der Schüler:innen. Gerade diejenigen, die eher bildungsfern sind, eher Bildungsverlierer*innen sind, sind auch die Verlierer:innen der Klimakrise - und waren auch die Verlierer:innen der Corona-Krise.
Und Lehrer:innen sind ja auch Teil dieses Systems. Das, was ich für die Schüler:innen gesagt habe, ist auch für die Lehrer:innen wichtig: Sich zu vergemeinschaften und sich als potenziell politische Akteure zu verstehen. So verstehe ich auch die Fortbildungen, die ich mache – wie zum Beispiel den Vortrag beim Tag der Bildung im Rahmen des Kreuzfestes des Bistums Limburg. Das sind Orte, an denen es nicht nur darum geht, Rezepte auszutauschen, sondern auch die emotionalen Herausforderungen, die jede:r einzelne spürt zu teilen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Denn auf einer individualisierten Ebene funktioniert die sozial-ökologische Transformation nicht. Das sehen wir jetzt auch gerade wieder: Wir sollen alle individuell in unseren Wohnungen Energie sparen. Das ist auch gut und richtig. Aber es bedarf eben auch einer kollektiven Anstrengung, es braucht gesellschaftliche und ökonomische Regelungen und Veränderungen. Das ist auch in der Schule wichtig, dass man sich als Gemeinschaft versteht und gemeinsam politisch agiert.
Das Interview führte Maike Müller
Zur Autorin:
Claudia Gärtner ist Professorin für Praktische Theologie an der Technischen Universität Dortmund. Sie promovierte in Systematischer Theologie und einer ihrer Forschungsschwerpunkte liegt im Bereich der politischen religiösen Bildung für nachhaltige Entwicklung. 2020 erschien ihr Buch „Klima, Corona und das Christentum – Religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung in einer verwundeten Welt“.