Röhrig, Hans-Jürgen: Religionsunterricht mit geistigbehinderten Schülern - aber wie? Perspektivwechsel zu einer subjektorientierten Religionsdidaktik. - Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag. 1999. 260 S., DM 49.80 (ISBN 3-7887-1763-7)
"Wie muss der Religionsunterricht angelegt (konzipiert) sein, damit schwer geistigbehinderte Schüler das Evangelium (die Frohe Botschaft) vernehmen?" Diese Fragestellung macht der evangelische Religionspädagoge zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zum Religionsunterricht (RU) mit Schülerinnen und Schülern mit einer geistigen Behinderung und stellt das Konzept eines subjektorientierten RU vor.
Subjektorientierter RU bedeutet für ihn zunächst ein Blickwechsel: Aus der Praxis ist RU zu sehen. Selbst das lineare Denken in der Unterrichtsplanung und die systemische Betrachtung der Rahmenbedingungen sind aufzugeben (vgl. S. 205). Alle Überlegungen, die Röhrig trifft, werden an der Unterrichtssituation mit dem schwerstmehrfachbehinderten Schüler Michael rückgebunden. Die Äußerungen und das Verhalten Michaels in einer Unterrichtsreihe zum Thema Weihnachten stellen das Korrektiv theoretischer Reflexion für Röhrig dar. So arbeitet der Religionspädagoge zunächst darauf hin, ein angemessenes christliches Menschen- und Schülerbild einer sonderpädagogisch orientierten Religionspädagogik zu entwickeln. "Nicht die Probleme eines Schülers bilden den Ausgangspunkt, sondern seine Fähigkeit, sein Leben autonom zu gestalten" (S. 181). Der Schüler, die Schülerin entwickeln ihren eigenen, subjektiven Zugang zur Welt und damit auch zum RU. Am Beispiel von Michael wird deutlich: Verhalten und Äußerungen auch eines schwerstmehrfachbehinderten Schülers sind sinnvoll. Aus der Sicht des Pädagogen sind sie auf Interpretation angewiesen. Diese Interpretation wird notwendig, da Michael und mit ihm jeder Schüler eigene, der Lehrperson gegenüber oft fremde, unbekannte Weisen der Auseinandersetzung mit Personen und Welt anwendet. Von daher bleibt immer ein Rest an Nicht-Verstehen. Dies gehört für Röhrig zum Phänomen geistiger Behinderung. Dieses Nicht-Verstehen verpflichtet die Lehrperson, dem Schüler (Michael) Raum zu geben: sich einzubringen, seine Selbstbestimmungsmöglichkeiten zu nutzen, sich entscheiden zu können, die Angebote von außen anzunehmen. Der Lehrperson sollte bewusst sein, dass seine Vorstellungen mit denen der Schüler nicht identisch sein müssen. Diese Sichtweise macht aus dem "schwerstbehinderten" Michael einen Schüler mit speziellen Erziehungsbedürfnissen. Er ist autonom in seinem Glauben. Er besitzt eigene religiöse Erfahrungen und Vorstellungen. Er kann eigenen Glauben entwickeln. Er verfügt über eigne Bekenntnismöglichkeiten wie z.B. über den Blick, den Atem oder die situative Interaktion. Hierbei handelt es sich um Beispiele von Bekenntnis durch sinnliche Wahrnehmung, Leiberfahrung und Kommunikation. "Diese" Formen des Bekennens lassen ihn selbstbestimmt glauben. Er bedarf wohl der Begleitung und Unterstützung im Sinne von Assistenz, um sich den Glauben auf seine Weise zu erschließen (vgl. S. 105). Theologisch zählt hier das Pauluswort von dem einen Leib, zu dem jedes Glied gehört.
Diese Sichtweise wendet Röhrig auf die Beiträge der verschiedenen religionspädagogischen Fachdidaktiken und Konzeptionen an. Er kommt zu dem Schluss, dass mit dem elementarisierendem Religionsunterricht und der Entwicklung einer kommunikativen Didaktik die Orientierung am Subjekt des Schülers forciert wird. Als Anforderungen an einen subjektorientierten RU verlangt Röhrig, neue Legitimatonsstrategien von RU. Solche Legitimationsstrategien sind von der Person der Schülerinnen und Schüler her zu entwickeln. "Neben dem Angebot, sich als ein von Gott bejahtes Subjekt zu erkennen, möchte der subjektorientierte Religionsunterricht einen Beitrag zur religiösen Orientierung und zur konkreten Lebenshilfe leisten. Der Mensch ist nicht nur in seiner Erziehungsbedürftigkeit, sondern grundsätzlich in seiner Fragmentarität wahrzunehmen. Er braucht Trost für erfahrenes Leid, Hilfe in Grenzsituationen und Unterstützung in Selbst- und Sinnfindungsprozessen" (S. 188). Dabei bringt sich der Schüler als ein autopoitisches System ins Spiel. Der Schüler ist Erfinder, Entdecker seiner Wirklichkeit. Ihm ist bewusst: "Alles könnte auch anders sein!" Wie Kösel geht es Röhrig letztlich um die Modellierung von Lernwelten.
Konsequenterweise soll auf der Basis eines "positiven Vertrauens in die Fähigkeit des Schülers" eine beständige Reflexion des Unterrichtsprozesses durch die Lehrperson erfolgen. Diese Forderung erhält im Kontext eines Unterrichtes, an dem auch Kinder mit einer Mehrfachbehinderung teilnehmen, ein besonderes Gewicht. Gemeinsames Ziel kann die Suche nach konsensuellen Bereichen und Verständigungsmöglichkeiten sein. Auf diese Weise erarbeiten sich die Schülerinnen und Schüler zugleich auch Normen und Werte bzw. eine Sozialethik, die dem christlichen Liebesgebot entsprechen oder es bewusst machen. Im Unterrichtsprozess nehmen Lehrer, Schüler und Sache eine gleichberechtigte Stellung ein. Der Erfolg hängt von der gegenseitigen Wahrnehmungsmöglichkeit ab. Bibelarbeit als Leibarbeit und die Begegnung mit Symbolen zeigen sich hier als wertvolle Elemente eines subjektorientierten Religionsunterrichtes.
Dieses Buch ist eine große Hilfe, die eigene Rolle als Lehrperson und die bestehende Unterrichtspraxis zu reflektieren und sich zu sensibilisieren. Mit der Einführung der Person "Michael" wird erstmals die Möglichkeit geschaffen, auch Kinder mit einer schwersten Behinderung zum Thema von Religionsunterricht zu machen, ohne vorschnell unter das Damoklesschwert von Defizitperspektive, Diskriminierung und Integration zu geraten. Überlegenswert wäre, ob der Ansatz auch auf andere Schulformen zu übertragen wäre.
Einem der wenigen Fachbücher, das in den letzten 15 Jahren zu diesem Bereich erschienen ist, wäre eine ausführlichere Literaturrecherche sicherlich hilfreich gewesen.
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