Sauzay, Brigitte/Thadden, Rudolf v. (Hg.): Eine Welt ohne Gott? Religion und Ethik in Staat, Schule und Gesellschaft (Genshagener Gespräche; Bd. III). - Göttingen: Wallstein Verlag. 1999. 232 S., DM 38,00 (ISBN 3-89244-362-9)
Der von Brigitte Sauzay, Beraterin für deutsch-französische Beziehungen im Bundeskanzleramt, sowie Rudolf von Thadden, Historiker aus Göttingen, herausgegebene, sehr vielfältige Band dokumentiert eine deutsch-französische Tagung, die Anfang Mai 1997 in Genshagen stattgefunden hat. Grenzüberschreitend und zu dem Thema in dieser Form wohl erstmalig wurden hier aktuelle Fragen zu Religion und Ethik in Staat, Schule und Gesellschaft von Fachleuten interdisziplinär diskutiert.
Dem Verlauf der Tagung folgend sind die insgesamt 20 Einzelbeiträge den Komplexen "Kirche und Gesellschaft im historischen Vergleich" und "Ethik- und Religionsunterricht in multikulturellen Demokratien" zugeordnet. Beide Teile sind wiederum in je drei verschiedene Diskussionsrunden untergliedert, die sich ausgewählten Einzelaspekten widmen. Die Thematik wird darin sowohl aus französischer als auch deutscher Sicht beleuchtet.
Der Tagungsband gibt zunächst, durch Beiträge von Paul Viallaneix und Jean Baubérot, Einblick in die Entwicklung des französischen Laizismus. Während Viallaneix sein Augenmerk auf die Rolle Edgar Quinets in diesem Prozess richtet, betrachtet Baubérot vor allem die Endphase der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er sieht den sich verstärkt in dieser Zeit abspielenden Konflikt zwischen dem "klerikalen" und dem "antiklerikalen Frankreich" als ein herausragendes Element der Entstehung des modernen französischen Staates (S. 27). Wolfgang Huber, Landesbischof von Berlin-Brandenburg, stellt dem französischen Laizismus das deutsche Modell von Säkularität gegenüber. Als paradigmatisch für das deutsche Staat-Kirche-Verhältnis beurteilt er die Debatten um die Paulskirchenverfassung, die in Deutschland einer aufgeklärten Säkularität die Bahn geebnet haben (S. 37). Die in diesem Kontext entwickelten staatskirchenrechtlichen Grundsätze wurden aber erst durch die Weimarer Reichsverfassung auch förmlich in Kraft gesetzt.
Mit der großen Bedeutung Condorcets für die Beurteilung des Verhältnisses von Laizismus und Moderne in Frankreich befasst sich Charles Coutel. Im Mittelpunkt seiner Darstellung steht dabei die von diesem entfaltete Anwendung des laizistischen Prinzips auf die Schule (S. 114 ff.), womit er thematisch bereits in den zweiten Teil der Tagung vorgreift. Coutel stellt fest, dass nach Condorcets Ansicht der Staat nicht erziehen, sondern nur Bildung vermitteln soll (S. 108, 112). Darin kommt, wie von Paul Valadier in einem eigenen Vortrag zum zweiten Tagungsthema herausgearbeitet wird, ein aufklärerisches Vernunftverständnis zum Ausdruck, das ganz auf die allein durch Wissen vermittelte Herausbildung eines kritischen Verstandes vertraut (S. 218). Die republikanische Schule hat nach diesem Verständnis die Aufgabe, das Kind aus seinen parteiischen Zugehörigkeitsverhältnissen zu lösen und von jeglicher Indoktrination zu befreien, ein Ziel, das jede Form religiöser Unterrichtung ausschließt. Wie diese Gedanken bis heute fortwirken, wird in einem Beitrag von Jean-Paul Martin über das französische Modell der Staatsbürgerkunde deutlich. Martin weist darauf hin, dass Themen wie der Sinn des Lebens nicht in der französischen Schultradition verankert sind (S. 213). Dementsprechend soll auch das Unterrichtsfach Staatsbürgerkunde vor allem Wissen vermitteln, Moral wird ausgeklammert, alles Private ist tabu. Martin resümiert, dass eine bestimmte Lesart des Laizismus zu einer Vergrößerung des ethischen Defizits der staatlichen Schule beigetragen hat (S. 214).
Mit dem Thema LER hat die Tagung schließlich einen weiteren kontroversen Diskussionsgegenstand aufgegriffen, der auch in Frankreich nicht geringe Beachtung findet. Während der Theologe Richard Schröder in seinem Beitrag den LER-Unterricht in Brandenburg als Fortsetzung der DDR mit anderen Mitteln bewertet, verteidigt Marianne Birthler, erste Kultusministerin des Landes, das Fach als angemessene Reaktion auf die Defizite, die in der DDR entstanden sind (S. 175). Die Positionen bleiben hier im Ergebnis unversöhnlich. "Potsdam scheint näher bei Paris zu liegen als München", schreiben die Herausgeber in ihrem Vorwort und bringen die Diskussion damit auf eine prägnante Formel.
Die soeben zitierten acht Beiträge machen nicht einmal die Hälfte des Tagungsbandes aus, stehen aber bereits exemplarisch für die große perspektivische Vielfalt, mit der sich das Buch den beiden Hauptthemen widmet. Die Veröffentlichung ist für die weitere Diskussion des Staat-Kirche-Verhältnisses und der schulischen Wertevermittlung von nicht zu unterschätzendem Wert. Gerade der deutsch-französische Vergleich gibt wichtige neue Einblicke und regt dazu an, nationale Fragestellungen neu zu überdenken.
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