Lütz, Manfred: Der blockierte Riese. Psycho-Analyse der katholischen Kirche. - München: Pattloch Verlag. 1999. 208 S., € 8.90 (ISBN 3-629-00673-6) - Als Taschenbuch bei Droemer Knaur, München. 288 S., € 8.90 (ISBN 3-426-77534-4)
Viele theologisch wichtige Aussagen der Vergangenheit wurden nicht von Berufstheologen gemacht, sondern von Menschen, die sich in der Theologie zwar bestens auskannten, aber einen anderen Beruf ausübten. Man denke hier, um nur einige zu nennen, an die gotischen Baumeister und Bildhauer, an die Maler des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neuzeit, oder an die Musiker des Barock. Viele von ihnen haben, ausgehend von ihren Hauptberufen, theologische Sachverhalte tiefer, bleibender und in den meisten Fällen auch verständlicher dargestellt als ihre längst vergessenen, hauptberuflich als Theologen arbeitenden Zeitgenossen.
Wenn man an die gestelzte und gespreizte, oft nur mit Anstrengung zu lesende Theologen-Sprache, vor allem in den kirchenamtlichen Dokumenten denkt - jüngstes Beispiel ist "Dominus Jesus" -, dann ist dieses Buch geradezu ein Paradebeispiel dafür, wie man, ohne seicht oder flach zu formulieren, kompetent, sachlich und dazu bestens verständlich über seinen Glauben und die katholische Kirche schreiben kann.
Manfred Lütz, im Hauptberuf Chefarzt eines psychiatrischen Krankenhauses, leistet sich die Freiheit, einige der am häufigsten gegen die katholische Kirche erhobenen stereotypen Anklagen - lustfeindlich, frauenfeindlich, undemokratisch etc. - aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, das heißt, er bestreitet das Kritisierte im Prinzip nicht, zeigt aber, dass man es auch aus völlig anderer Perspektive sehen kann und dann auch zu einem anderen Urteil kommt.
Zunächst jedoch vorab ein Wort zu seiner Sprache: Auf der Rückseite des Titelblattes finden wir einen, von ihm als Zitat übernommenen Satz: "Wenn man/frau mit seiner/ihrem Partner/-in zusammenleben will, so wird er/sie zu ihr/ihm in ihre/seine Wohnung ziehen." Dieser Satz ist für ihn ein hinreichender Grund, zu erklären, dass er die einfache Sprache der zwar korrekteren, aber sicherlich unübersichtlicheren vorziehe. Diesem guten Vorsatz bleibt der Verfasser über die gesamten 200 Textseiten hin treu.
Nun zum Perspektivewechsel: Der Mahnruf Jesu: "Meta-noeite", gemeinhin mit "Kehret um" oder "Denket um" übersetzt, wird vom Autor mit "Erkennet um" übersetzt (S. 71) und als Aufforderung betrachtet, einen Perspektivwechsel vorzunehmen bzw. die Dinge einmal aus einem anderen Blickwinkel oder von einem anderen Standort aus zu betrachten. Er erhofft sich davon ähnliche Erfolge wie von einem im Bereich der Psychotherapie bekannten und seit längerem praktizierten Paradigmawechsel.
Um seine These von der Selbstblockade des Riesen zu untermauern, beschreibt er gleich zu Anfang äußerst anschaulich eine, den meisten Katholiken gut vorstellbare und von Insider-Katholiken auch so oder in ähnlicher Form bereits erlebte Szene. Es handelt sich um einen vom Pfarrgemeinderat entsprechend gut vorbereiteten Besuch des Bischofs in der Gemeinde. Für das Gespräch mit ihm wählt man die sattsam bekannten Leib- und Magenthemen: Zölibat, Priestertum der Frau, kirchliche Sexualmoral und römischer Zentralismus, samt und sonders Themen, von denen alle Beteiligten schon im Voraus wissen, dass der Bischof darauf keine befriedigende Antwort geben kann und tatsächlich auch nicht gibt. Entsprechend frustriert sind sowohl die Mitglieder des Pfarrgemeinderats; frustriert ist aber auch der Bischof, der während der Heimfahrt im Dienstwagen zu seinem Fahrer sagt: "Wissen Sie, das war wieder das Gleiche wie in der vorigen Gemeinde, immer die gleichen Themen, aber über die Besonderheiten und Talente dieser Gemeinde habe ich wieder so gut wie nichts erfahren." Der Kommentar des Autors: "Psychologisch nennt man das eine sorgfältig geplante Frustration."
Wie wohltuend und auch befreiend der vom Autor angeratene Perspektivewechsel sein kann, illustriert er anschließend anhand vor vier Beispielen aus der Kirchen- und Dogmengeschichte, wo die Kirche in Gefahr stand, sich selbst zu blockieren: Im sogenannten Gnadenstreit am Ende des 16. Jahrhunderts vertraten vor allem in Spanien Jesuiten und Dominikaner in einer eminent wichtigen Fragestellung solch gegensätzliche Positionen, dass eine, beide Seiten befriedigende Lösung des Konflikts in der Sache unmöglich war. Dennoch wurde der Papst, nicht zuletzt vom spanischen König, immer wieder zu einem, den Streit bereinigenden Machtwort gedrängt. Nach endlosen Beratungen fand das Oberhaupt der Kirche eine, allerdings nur durch Perspektivewechsel mögliche, Lösung. Er erklärte zunächst, dass weder die Jesuiten noch die Dominikaner die ihnen unterstellte Irrlehre verträten, und zweitens, dass beide Parteien, bei Strafe der Exkommunikation, sich in Zukunft gegenseitig nicht mehr der Irrlehre bezichtigen dürften. "Das Geniale an der Entscheidung war (so Lütz S. 92), dass mit dem Mittel der (angedrohten) Verurteilung die Verurteilung verboten wurde. Wer andere nicht toleriert, der sollte selbst nicht toleriert werden." Damit war ein geordnetes Nebeneinander der verschiedenen Auffassungen innerhalb der Kirche möglich und die Selbstblockade aufgehoben.
Wie tolerant die als intolerant gescholtene katholische Kirche war und ist, zeigt der Autor am Beispiel der verschiedenen Ordensgemeinschaften. Trotz ihrer unterschiedlichen theologischen Konzepte und Lebensweisen dürfen sie alle, entsprechend der Regel, unter dem großen Dach der einen Kirche leben. Sie dürfen so ziemlich alles, nur eines dürfen sie nicht, sich selbst für bessere Christen halten als die Mitglieder des anderen Ordens. Lütz nennt dies (S. 94) ein Exklusivitätsverbot und fragt, ob es nicht in einer zunehmend pluralistischen und sogar multikulturellen Gesellschaft zur Lösung auch profaner Probleme dienen könnte.
Ähnlich erfrischend ist es, wenn Lütz sich zum vielgeschmähten Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit äußert und es als "Unfehlbarkeitsverbot" bezeichnet. Auch wenn man zunächst irritiert ist, so muss man ihm doch Recht geben, denn die Lehre des Ersten Vatikanischen Konzils besagt lediglich, dass der Papst, allerdings auch nur er, und auch nur unter ganz bestimmten eng gezogenen Grenzen unfehlbar sei. Wenn man bedenkt, dass von den 1,2 Milliarden Mitgliedern der katholischen Kirche nur eine einzige Person befugt ist, und das noch unter strengsten Auflagen, unfehlbare Äußerungen abzugeben. - N.B.: nur zweimal wurde bislang davon Gebrauch gemacht -, dann ist dies äußerst beruhigend. Im Hinblick auf die vielen, im religiösen und religionsnahen Bereich sich tummelnden, selbsternannten und sich selbst als unfehlbar hinstellenden Gurus kann die oben genannte Regelung dann durchaus und zurecht als Unfehlbarkeitsverbot bezeichnet werden.
Befreiend ist auch sein Kommentar zum Gejammer über das schwere Los der Laien in der katholischen Kirche. Lütz bestreitet gar nicht, dass in einigen Instruktionen des Vatikans eine Reihe von Aufgaben den Priestern vorbehalten wird. Doch wenn man, wie Lütz, die Perspektive wechselt, dann zeigt sich ein völlig anderes Bild. Dann sind es nämlich die Laien, denen wesentlich mehr zugestanden wird als den Priestern, und das betrifft bei weitem nicht nur die Möglichkeit, zu heiraten, sondern das Tätigwerden in allen Bereichen von Wirtschaft und Politik, Bereiche, in den Priestern zu wirken untersagt ist.
Noch viele andere, zunächst überraschende Perspektivewechsel werden dem Leser geboten. Diese wenigen wurden ausgewählt, um zu zeigen, dass es sich lohnt, das Buch selbst in die Hand zu nehmen, zu lesen und am Ende zu überlegen, ob es gerechtfertigt ist, dass ein vom Autor (S. 69) erwähntes Buch den für das Empfinden Vieler provozierenden Titel trägt: "Von der Lust, katholisch zu sein".
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