Ebertz, Michael N.: Erosion der Gnadenanstalt? Zum Wandel der Sozialgestalt von Kirche. - Frankfurt: Verlag J. Knecht. 1998. 384 S., DM 78,00 (ISBN 3-7820-0808-1)
Seit einiger Zeit schon ist klar, dass entgegen aller vordergründigen Behauptung der Sinn für Religion und Religiosität in unserer Gesellschaft keineswegs im Schwinden ist, sehr wohl aber die kirchlich verfasste Religion und Religiosität an prägendem Einfluss eingebüßt hat, unschwer ablesbar in den Biographien der Einzelnen, ebenso ablesbar im kollektiven gesellschaftlichen Bewusstsein, in dem die beiden christlichen Kirchen im Wertepluralismus des nun wiedervereinigten und jetzt neu zusammenwachsenden Deutschlands nur noch eine (wenn auch noch sehr wichtige) Sinnagentur unter anderen ist. Die Plausibilität der katholischen Kirche als "Gnadenanstalt" (Max Weber), als einziger vermittelnder Weg zum christlichen Heil, ist auch unter katholischen Christinnen und Christen weithin verloren gegangen. Nicht nur das theologische Selbstverständnis der Kirche hat sich, etwa durch das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965), gründlich geändert. Vielmehr befindet sich in dessen Gefolge auch die Sozialgestalt der Kirche in einem anhaltenden, dynamischen Wandlungsprozess, der in lebendiger Treue zum Ursprung und zur eigenen Entwicklungsgeschichte (Ekklesiogenese) noch so manch Spannendes hervorbringen kann. Diese Umbruchsituation, in der sich die Kirche in der bundesrepublikanischen Gesellschaft an der Schwelle zum 3. Jahrtausend befindet, ist das Thema der von Michael N. Ebertz vorgelegten und in Konstanz eingereichten soziologischen Habilitationsschrift. Der an der Katholischen Fachhochschule in Freiburg, und inzwischen auch an der Universität Konstanz, lehrende Religionssoziologe liefert in verständlicher Sprache eine durch zahlreiche Befunde (demoskopische und statistische Daten) gestützte Analyse der soziologisch wahrnehmbaren Veränderungen und Entwicklungen der verkirchlichten Religion und Religiosität seit den 50er Jahren bis heute. Aus soziologischer Vogelperspektive versucht er im Gleitflug über die religiöse Landschaft in Deutschland den Umbruch der Sozialgestalt von Kirche wahrzunehmen, zu beschreiben und zu erklären. Sichtbar werden dabei sowohl die historisch unterschiedlich wirksamen, jeweils bewusst gewollten Zielentscheidungen für eine bestimmte Sozialgestalt von Kirche als auch ihre tatsächliche Ausprägung und Veränderung bis hin zur Relativierung der Ursprungsintention ("Von der Konfessionalisierung zur Entkonfessionalisierung", Kap. 1; "Von der Verkirchlichung zur Entkirchlichung", Kap. 2). Angesichts der Pluralisierungsprozesse in der Gesellschaft (strukturell, kulturell, individuell) und einer Entdifferenzierung des Religiösen sieht Michael N. Ebertz "Kirche und Kirchlichkeit unter externem" (Kap. 3) wie auch unter "internem Relativierungsdruck" (Kap. 4). Ebertz bezweifelt, ob eine von katholisch-fundamentalistischen Gruppen aus Angst um ihre christliche Identität gesteuerte Kehrtwende "Vom Pluralismus zum Fundamentalismus?" (Kap. 7) die gewünschte christlich-katholische Identitäts(ver)sicherung erbringen kann, und erläutert seine Vermutung, warum die kirchliche Sozialgestalt in Richtung "Von der Pfarrei zur ‘Gemeinde’: Kirche als milieugebundene Assoziation" (Kap. 8) gehen wird, die mit der Herausbildung neuer kommunikativer Milieus und einer "Kommunikationspastoral der Zwischenräume" ihre Zukunftsfähigkeit erweisen wird. - Erosion der Gnadenanstalt? Die Chance einer Kirche, die sich selbst als "ecclesia semper reformanda" versteht, ist die, diesen Wandel nicht als Verfall zu (miss)deuten und passiv zu erleiden, sondern in stets neuer Ausrichtung am Evangelisierungsauftrag ihres Stifters die notwendige Umgestaltung nicht als Anpassung, wohl aber als Angleichung an die Erfordernisse der jeweiligen Zeit und Kontext(e) kreativ zu gestalten. "Kirche am Ende? Von der Überzeugungs- zur Dienstleistungsorganisation" (Kap. 9) heißt Ebertz’ Ausblick. Man muss Michael N. Ebertz nicht in all seinen Schlussfolgerungen zustimmen, aber seine gründliche Analyse des Wandels der Sozialgestalt von Kirche ist gerade für Hauptberufliche und Ehrenamtliche in der Kirche eine wichtige Wahrnehmungshilfe, die zum Mit- und zum Nach-Denken einlädt und zu eigenen Schlussfolgerungen und Ausblicken anregt.
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