Schockenhoff, Eberhard: Zur Lüge verdammt? Politik, Medien, Medizin, Justiz, Wissenschaft und die Ethik der Wahrheit. Freiburg u.a.: Verlag Herder. 2000. 526 S. € 35.00 (ISBN 3-451-27369-1)
Stellt das moralische Verbot der Lüge eine Überforderung des Menschen dar (18)? Ausgehend von dieser Frage, die nur eine "pessimistische Anthropologie" (31) bejahen kann und welche Eberhard Schockenhoff im ersten Kapitel ("Beitrag der Humanwissenschaften", 13-40) mit Hinweis auf den Menschen als Freiheitswesen, der Kontextgebundenheit menschlicher Rede und der eigenständigen Geltungslogik moralischer Normen verneint, entwirft der Freiburger Moraltheologe ein Handbuch zu einem grundlegenden Bereich angewandter Ethik. Wer sich vom etwas reißerisch formulierten Titel nicht abschrecken lässt und zu lesen beginnt, vermag sich nur noch schwer vom Text zu lösen. In den ersten drei Kapiteln erarbeitet der Verfasser die historischen und systematischen Grundlagen einer Wahrheitsethik (13-206), die Kapitel vier bis sieben behandeln mit den Bereichen Wissenschaft, Medien, Recht und Medizin konkrete Problemfelder (207-264), das kurze achte Kapitel besteht aus einem Epilog, in welchem die Überlegungen im christlichen Sinnhorizont gedeutet und vertieft werden (504-514).
Das zweite Kapitel (41-130) bietet einen historischen Überblick über die ethische Behandlung der Wahrheitsfrage ausgehend von Augustinus mit seinem kompromisslosen Lügenverbot, über Thomas v.A., der die Thematik im Zusammenhang mit der Tugend der Wahrhaftigkeit behandelt und die situative Adäquatheit einer Aussage hervorhob, die Neuzeit mit der Falsiloquientheorie (eine Falschaussage ist erst dann verwerflich, wenn keine Rechtsverletzung hinzukommt) und Kants rigoristischem Lügenverbot bis hin zu gegenwärtigen Beiträgen, in welchen insbesondere teleologische Ansätze und die Deutung einer Pflichtenkollision mit der unumgehbaren Konsequenz des Schuldigwerdens aufgenommen werden. Der Verfasser schließt sich der rigoristischen Tradition des Lügenverbots bei Augustinus, Thomas und Kant an, kritisiert eine rein auf die Folgen rekurrierende teleologische Begründung, ist aber in seinem eigenem Konzept der "situationsadäquaten Wahrheit" immer wieder bereit, Folgenüberlegungen in sein ethisches Urteil einzubeziehen (153: Hebammen von Ex 1, 15-21!, 196f, 202).
Ausgehend vom biblischen Wahrheitsverständnis erläutert er im dritten Kapitel (131-206) moraltheologische Aspekte: Neben dem Aussagewert der Wahrheit (logische Wahrheit) sollte auch deren personale Ausdrucksqualität (Tugend der Wahrhaftigkeit) und deren kommunikativer Grundsinn (Anerkennung des Anderen) mitbedacht werden (194), das moralische Urteil über eine Aussage nur aus dem Kontext heraus gefällt werden. Oberste Richtschnur und Norm bleibe die Liebe (204).
Erkenntnisleitend für den zweiten Buchteil ist die Bedeutung, die der Autor der immanenten Handlungsrationalität der jeweiligen Sachbereiche zuerkennt (206). Was folgt, sind vier eigenständige "kleine Tugendethiken" zu den Bereichen Wissenschaft, Medien und Öffentlichkeit, Recht und Medizin.
Im vierten Kapitel zur Suche nach der Wahrheit in der Wissenschaft (207-264) kritisiert der Verfasser eine naive Fortschrittsgläubigkeit, erläutert die Tugenden eines Wissenschaftlers wie Sachlichkeit, Konsistenz, Bescheidenheit und geißelt so manches Fehlverhalten wie das Plagiat oder das Nichtnennen von Mitarbeitern.
Unter dem Titel "Wahrheit in der demokratischen Öffentlichkeit und in der medialen Kommunikation" entwirft der Verfasser die Grundrisse einer Medienethik, insofern die Geschichte der Pressefreiheit, Interpretationsmodelle medial erzeugter Wirklichkeit genauso wie eine Tugendethik der Medienschaffenden und -nutzer geboten wird (5. Kap., 265-352). Besonders spannend sind die drei Exkurse zur Ausschwitzlüge, den Wahrheitskommissionen und der Politikerlüge zu lesen.
Im sechsten Kapitel zur Wahrheitsfindung im Recht (353-442) wird sehr akribisch in die Welt der juristischen Hermeneutik und der richterlichen Urteilsfindung im Zivil- und Strafprozess eingeführt und insbesondere der Eid als Instrument der Wahrheitsfindung kritisch beleuchtet. Ein ausführlicher Exkurs zum innerkirchlichen Gebrauch des Eides lässt schließlich auch die Bereitschaft des Theologen zur (notwendigen) Kritik an der eigenen Kirche und ihrem Treueeid durchblicken, wenn diese auch sehr behutsam formuliert wird.
Schließlich folgt eine Abhandlung zur Wahrheit und Wahrhaftigkeit in der Medizin (7. Kap., 443-503). Historisch-ideengeschichtlichen Überlegungen folgen tugendethische Reflexionen zum Handeln und Entscheiden der Ärztinnen und Ärzte. Abgeschlossen wird das Kapitel mit Gedanken zur Arzt-Patienten-Beziehung. Besonders hervorzuheben ist hier die sensible und gleichwohl kritische Erläuterung der Wahrheit im ärztlichen Gespräch, wobei oberste Richtschnur das Wohlergehen des Patienten bleiben müsse (476). Auffällig ist, dass in erster Linie die Arztperspektive in den Blick genommen wird, eine "Tugendethik für die Patienten" fehlt.
Der erwähnte Epilog schließt das Handbuch mit einer theologischen Interpretation ab, die in ein Plädoyer für Toleranz und Offenheit gegenüber Andersdenkenden mündet (Kap. 8, 504-514).
Personen- und Sachregister ermöglichen das leichte Auffinden von Einzelthemen gemäß den verschiedensten Interessen, mit welchen Leserinnen und Leser zu diesem Handbuch greifen werden. Das ideengeschichtlich und tugendethisch geprägte Grundlagenwerk mit seinen Exkursen zu aktuellen Herausforderungen vermag Welten zu eröffnen und ist als interdisziplinäres Nachschlagewerk sehr zu empfehlen.
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