Institut für Bildung und Entwicklung im Caritasverband der Erzdiözese München und Freising e.V. (Hg.): Bildung für die Zukunft Zukunft der Bildung. (Forum Sozialwirtschaft). München: Don Bosco Verlag. 2000. 120 S., 11.70 (ISBN3-7698-1208-5)
Nun liegt ein Buch vor, in dem der Versuch unternommen wird, einen kleinen Überblick über wichtige Entwicklungen und Fragestellungen im Bildungsbereich zu geben. Begriffe wie lebenslanges Lernen, Wissensgesellschaft, lernende Organisation oder virtuelles Lernen tauchen seit gut einem Jahrzehnt in der Bildungslandschaft auf. Aber da die Inhalte, die mit diesen Begriffen verbunden sind, in kaum einem Lernprozess vorkommen oder erfahren werden können, geistern die seltsamsten Vorstellungen durch die Köpfe. Oft entsteht der Eindruck, dass diese moderne Begrifflichkeit einfach als Aushängeschild vor altbewährte, rein inhaltsbezogene Lernveranstaltungen gehangen wird. Die Sammlung von Beiträgen, die das Buch enthält, kann dazu beitragen, dass die Bildungspackungen auch das enthalten, was auf ihnen steht.
Zu Beginn des Buches kreist Karlheinz A. Geißler den Begriff des lebenslangen Lernens ein, nicht ohne kritisch das Paradigma Wer aufhört zu lernen, hört auf zu leben als universelles Entwicklungs- und Veränderungsmodell zu hinterfragen, da mit diesem ja die Maxime der individualisierten Zukunftsverbesserung durch Wissensveränderung verbunden ist. In der Konsequenz bedeutet dies, dass Zukunft im subjektiven Sinne privatisiert und als solche zu optimieren ist. Diese grundsätzliche Kritik aber ist nur das eine Bein des Spagates, der auszuhalten ist. Muß doch das andere Bein der postmodernen Bedingung der ständigen Entscheidungsnotwendigkeit nachkommen, was ohne Lernen schnell dem Bedürfnis nach Sinn und Richtigkeit nicht mehr zu entsprechen vermag. Entscheiden aber setzt 2. ein hohes Maß an reflexivem Verhalten voraus. Ein drittes Aspekt des zweiten Beines ist die zunehmende Globalisierung, die Denken und Handeln in Zusammenhängen erfordert. Schließlich zwingt die immer kürzer werdende Halbwertzeit des Wissens zu einem ständigen Lernprozess. Geißler folgert aus diesem Spagat die Notwendigkeit von 5 Metakompetenzen, die sich in den Lernprozessen widerspiegeln müssen:
1. Lern- und Beratungsbereitschaft: Fähigkeit, sich als Lernender zu verstehen und Beratung von außen annehmen zu können.
2. Pluralitätskompetenz: Fähigkeit, in nicht standardisierten Situationen produktiv zu werden.
3. Übergangskompetenz: Übergangsgestaltung, bei der Vergangenes sinnvoll abgeschlosssen und Unsicherheiten identifiziert und produktiv involviert werden.
4. Sozial-kommunikative Kompetenz: Fähigkeit zur Steuerung sozialer Zusammenhänge.
5. Prozessstrukturbezogene Kompetenz: Entwicklung von Erwartungssicherheit im Hinblick auf Veränderung.
Alle diese Kompetenzen erfordern ein hohes Maß an Selbstorganisation im Umfeld einer hohen Komplexität, bei der zahlreiche Schnittstellen zu bedienen sind.
Auf der Grundlage dieses ersten Aufsatzes lässt sich dann auch leichter verstehen, dass Helmut Willke die entscheidende Dimension der Bildungsentwicklung im Zusammenspiel von personalisiertem und organisationalem Lernen sieht. Vollzieht sich das personalisierte Lernen immer auch in Zusammenhängen, so stellt sich folglich die Frage, wie diese Lernschnittstellen so besetzt werden können, das ganze Systeme am Lernerfolg des Einzelnen teilhaben können und umgekehrt. Vernetztes Wissen, das die Organisation weiterbringt, wird somit zur entscheidenden Ressource.
Ideen für die Umsetzung dieser Fragestellung beschreibt Wilhelm Simon am Beispiel der VIAG AG für eine Profitorganisation in seinem Beitrag, in dem er 1. regelmäßige Konsultation, 2. Ortswechsel, 3. einheitliche Sprache und 4. EDV-unterstützter Informationszugang als zentrale Basiselemente benennt.
Auf diesem Hintergrund ist es interessant zu fragen, welchen Beitrag die Hochschulen gerade im sozialwirtschaftlichen Bereich für eine zukunftsorientierte Lernfähigkeit leisten. Obwohl Ernst Engelke dem dortigen Lernen Fortschritte bescheinigt, legt er den Finger in die Wunde der Hochschulen: die unzureichenden Lehr-Lern-Methoden.
Durch die Überlastung mit Einzelinformationen wird nach wie vor dem Kurzzeitgedächtnis gehuldigt. Nachplappern statt selbst zu denken, ist gefordert, der Nürnberger Trichter lässt grüßen. Die produzierte Kluft zwischen Wissen und Handeln pflanzt einen Lernwald, in dessen Dunkelheit lernpsychologische und gruppendynamische Erkenntnisse nicht einmal als Nebel vordringen können. Die Reflexion von Lernprozessen und -ergebnissen, an denen sich die entscheidenden Erkenntnisse entdecken lassen, fallen zugunsten standardisierter Prüfungen und Tests aus. Soziales Lernen als wichtiger Faktor des interpersonalen Lernvorgangs fällt meist ganz aus.
Nicht zu übersehen ist damit die Diskrepanz zwischen Anspruch und Anforderungen der beruflichen Wirklichkeit und der Vorbereitung auf diese in der Ausbildung an den Hochschulen.
Valentin Doering stellt in seinem Aufsatz am Beispiel des Caritas-Verbandes die berechtigte Meta-Frage, ob offenen Lernprozessen nicht notwendigerweise ein Proprium zugrunde liegen muss, das sich als Leitbild oder artikulierte Organisationskultur in der Aus- und Weiterbildung abzeichnen muss und diese ausrichtet. Dabei weist er auf das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Organisation hin, in dem sich die Thematisierung des Propriums ereignen muss, damit sich Lernen als dialektische Annäherung von Person und Organisation ereignen kann.
Ob die ethische Dimension in offenen Lernprozessen, gerade für Führungskräfte, Eingang finden kann, ist die Fragestellung, die Thomas Steinforth in seinem Beitrag verfolgt. In den Facetten Vermittlung von Ethik und Verhaltenstraining zeigt er Möglichkeiten und Grenzen auf. Kern des Möglichen bleibt folgerichtig in einem offenen Lernprozess die durchlaufende reflektierende Dimension, die als ethische Frage nach ihren Kriterien sucht.
Eine entscheidende Frage im Bildungszusammenhang ist die Erhebung von Fortbildungsbedarf, der sich Wolfgang Obermair am Beispiel der Führungsqualifizierung in der Münchener Caritas widmet. Durch die Unterscheidung von Qualifizierungsbedarf und Qualifizierungsbedürfnissen versucht Obermair die Notwendigkeit einer objektivierbaren Basis für die Erhebung von Qualifizierungsbedarf zu verdeutlichen. Dabei ist die systematische Erhebung, die individuelle Fortbildungsnotwendigkeiten sichtbar macht, Voraussetzung für eine Qualitätssteigerung.
Im letzten Beitrag des Buches stellt Markus Erhart einige Möglichkeiten des Lernens und der Kommunikation vor, die virtuelle Lernsysteme eröffnen. Ob als Mail, Chat, Schwarzes Brett, Bibliothek oder Fallbearbeitung, virtuelles Lernen bietet die Möglichkeit, Qualifizierungsbedarf sofort aufzunehmen, Inhalte zeitnah anzupassen, Kontakte bei Bedarf aufzunehmen, Austausch im Frage- und Aufgabenkontext zu ermöglichen und anderen zugänglich zu machen. Virtuelle Lernsysteme ermöglichen die kontinuierliche Begleitung von Lernenden, können zu Vor- und Nachbereitung von Seminaren dienen und sind im Hinblick auf örtliche, inhaltliche und zeitliche Flexibilität erheblich kostengünstiger als herkömmliche Formen der Lernorganisation. Die Implementierung von virtuellen Lernsystemen steht erst am Anfang einer wahren Revolution des Lernens und Arbeitens und eröffnet noch kaum überschaubare Möglichkeiten der Kombination unterschiedlicher Lernformen.
Das vorliegende Buch regt zur notwendigen Auseinandersetzung mit der Fragestellung der Bildung an, gibt zahlreiche Impulse und macht Lust auf Lernen.
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