Kunstmann, Joachim, Religion und Bildung, Zur ästhetischen Signatur religiöser Bildungsprozesse (Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft; Bd. 2). - Freiburg u.a.: Verlag Herder / Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. 2002. 480 S., - 44.95 (ISBN 3-579-05291-8 = Gütersloher Verlagshaus / 3-451-27887-1 = Herder).
In seiner Autobiographie "Der singende Stotterer" (1983) schildert Walter Dirks, der Mitbegründer und Herausgeber der legendären Frankfurter Hefte, seine ersten kindlichen Eindrücke von der Eucharistie: "Die lange Geschichte meines Umgangs mit dem `Leib des Herrn´ (...) begann vor 75 Jahren, als der kleine dicke Dechant Z. eine schneeweiße reine runde Scheibe, in gotisches Gold gefasst, unter dem brokatenen Himmel durch die Straßen trug: Böllerschüsse, Glockenläuten, Bläserchoräle, kleine weißgekleidete Mädchen mit Kränzchen im Haar, der Duft der ermattenden Büsche am Straßenrand. Die Geschichte war von ihrem ersten Höhepunkt vor 70 Jahren an, der 'Erstkommunion', auf Strecken aufregend, den Kopf und das Herz beanspruchend und erhitzend, auf Strecken langweilig; aber immer wurde das, um was es jeweils ging, als wichtig, als zentral empfunden." Was Walter Dirks hier beschreibt, ist in pädagogischer Diktion ein Bildungserlebnis von offensichtlich lebensprägender Bedeutung. Das kirchliche Ritual, die religiöse und feierliche Atmosphäre, das Verhalten der Umstehenden, der Mitvollzug der Liturgie wecken in dem Kommunionkind den Sinn für das Geheimnis und die Schönheit der Eucharistie. Erst Jahre später wird er verstehen, was Eucharistie bedeutet und warum Christen sie feiern. Doch alles Wissen um biblische Einsetzungsberichte, um die historische Entwicklung der Messliturgie oder die dogmatischen Dispute um Realpräsenz und Transsubstantiation bleiben totes religions- oder christentumskundliches Wissen ohne das prägende Bildungserlebnis der Kindheit, ohne den Sinn für das Geheimnis der Eucharistie. Dieser Sinn wird nicht primär durch theologisches Nachdenken und historische Kenntnisse gewonnen, sondern durch ästhetische Erfahrung: durch die Wahrnehmung der feierlichen Atmosphäre der Fronleichnamsprozession und den Mitvollzug der Liturgie. In der Begegnung mit gelebter Religion entsteht und entwickelt sich die persönliche Religiosität des jungen Walter Dirks.
Dirks' autobiographische Anmerkungen zur Eucharistie veranschaulichen prägnant das Thema, das der evangelische Religionspädagoge Joachim Kunstmann in seiner Habilitationsschrift behandelt, nämlich das Verhältnis von Religion, Bildung und Ästhetik. Wie kann der christliche Glaube tradiert werden, wenn er nicht mehr durch Sozialisationsprozesse abgesichert und kaum mehr als fraglose Einübung in durch Tradition und Institution verbürgte Sprach- und Lebensformen geschehen kann? Die Antwort auf diese Frage findet Kunstmann in der spezifisch deutschen Tradition des Bildungsdiskurses, den er kenntnisreich von Meister Eckhart über Humboldt, Schiller und Schleiermacher bis zu Nietzsche rekonstruiert. Immer wieder trifft er auf Affinitäten und wechselseitige Abhängigkeiten von protestantischer Religion und Bildung, geht es doch beiden um die Entfaltung des Einzelnen. Man sollte hier nicht gleich die konfessionelle Differenz betonen. Denn auch die katholische Rede von der "Beheimatung in der Kirche" impliziert doch, dass der Einzelne durch diese Beheimatung zur eigenen Entfaltung kommt.
Richtig spannend wird die Lektüre jedoch erst im letzten Teil, wo Kunstmann der Frage nachgeht, was religiöse Bildung ist und wie sie erworben wird. Scharf und teilweise polemisch grenzt er sich einerseits gegen religionspädagogische Konzepte (z.B. der problemorientierte Religionsunterricht) ab, die den Sinn religiöser Bildung durch außerreligiöse Zwecke bestimmen, und andererseits gegen die immer wiederkehrenden Versuche, religiöse Bildung mit dem Erwerb von Katechismuswissen gleichzusetzen. Mit Schleiermacher betont er, dass Religion nur durch Religion gelernt werden kann, und den Verfechtern einer neuen Inhaltlichkeit des Religionsunterrichts gibt er zu bedenken, dass Religion sich nicht auf Dogmatik und Ethik reduzieren lässt. Religiöse Bildung beruht für Kunstmann primär auf ästhetischen Erfahrungen, auf der Wahrnehmung religiöser Formen und Gestalten in der Begegnung mit gelebter Religion. Denn Inhalte existieren nicht ohne Form und die Erfahrung der letzten Jahrzehnte zeige deutlich, dass das Verschwinden der Form schließlich zum Verschwinden der Inhalte führt. Folgerichtig avancieren Bibel, Kirchenbau und vor allem Liturgie zu den bevorzugten Medien religiöser Bildungsprozesse. Solche Thesen wirken im evangelischen Kontext provozierend, werden religiöse Formen und Gestalten doch traditionell zu den sogenannten Adiaphora gerechnet, die für den Glauben wohl nützlich, aber eben nicht notwendig sind. Der christliche Glaube aber ist keine Kombination von Dogmatik und Ethik, sondern vor allem ein Lebensvollzug. Jenseits der Glaubenspraxis verliert die christliche Lehre ihre lebensdeutende und lebensprägende Kraft. Ohne den "Sinn und Geschmack fürs Unendliche" (Schleiermacher) bleibt der Katechismus eine Sammlung toter Buchstaben.
Die Konsequenzen dieser These für den Religionsunterricht liegen auf der Hand. Ohne die Begegnung mit gelebter Religion, ohne den zumindest gelegentlichen Kontakt zu Orten und Räumen gelebten Glaubens verkommt der Religionsunterricht zur reinen Religions- oder Christentumskunde, die die Relevanz dessen, was gelernt werden soll, nicht mehr plausibel machen kann. "Religiöse Didaktik", fährt Kunstmann fort, "muss religiöse Praxisformen nicht nur reflektieren und besprechen, sondern immer erst ermöglichen." (435) Das kann im schulischen Religionsunterricht sicher nur ansatzweise geschehen, aber es muss geschehen. Denn religiöse Sprach- und Deutungskompetenz erwirbt man nicht allein im Medium theologischer Reflexion, sondern primär im Mitvollzug religiöser Praxis. Kunstmann bezieht sich hier ausdrücklich auf Karl Rahners Begriff der Mystagogie. Verwandte Überlegungen haben vor kurzen Bernhard Dressler und Rudolf Englert unter dem Label "performativer Religionsunterricht" angestellt (vgl. rhs 1/2002). Das Ziel religiöser Bildung ist für Kunstmann der gebildete Christ: "Ein gebildeter Christ wäre (...) als eine Person zu verstehen, die eine angemessene Form der Beheimatung in Formen und Deutungen der christlichen Tradition und Frömmigkeitspraxis erreicht hat bzw. anstrebt und die im Idealfalle auch die Kriterien der Wahl und die Vollzugsregeln der eigenen religiösen Praxis und Deutungsleistungen angeben könnte." (435)
Diese Zielbestimmung macht jedoch auch deutlich, dass ästhetische Wahrnehmung für religiöse Bildung zwar unerlässlich ist, diese aber nicht auf Ästhetik reduziert werden kann. Wer die Kriterien der Wahl und die Vollzugsregeln der eigenen religiösen Praxis angeben können soll, wird - gerade im Zeitalter des religiösen Pluralismus - auf Rationalität und Ethik nicht verzichten können. Der christliche Glaube erhebt einen Wahrheitsanspruch, den es nicht nur praktisch einzulösen, sondern auch theoretisch zu rechtfertigen gilt. Hier muss man sich jedoch vor falschen Alternativen hüten. Ästhetik und Ethik, Ästhetik und Politik müssen sich nicht widersprechen. Das zeigt die zitierte Autobiographie von Walter Dirks.
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