Gerhard Schweizer
Pilgerorte der Weltreligionen
Auf Entdeckungsreise zwischen Tradition und Moderne
Mit einem Vorwort von Karl Josef Kuschel
Ostfildern: Patmos Verlag. 2011
304 Seiten m. 16 Farbtaf. u. s-w Abb., 24,90 €
ISBN 978-3-8436-0069-9
Pilgerschaft ist ein universalreligiöses Phänomen, was uns oft schlaglichtartig deutlich wird, wenn wir in aktuellen Zeitungsberichten von riesigen Pilgermengen lesen, die nach Mekka oder Madurai strömen. Vielleicht wird uns dann aber auch bewusst, dass dieses Phänomen sich von Europa über den Vorderen Orient nach Indien, China bis nach Japan erstreckt.
Gepilgert wird demnach in allen Religionen, ob von Christen, Juden, Muslimen, Hindus oder Buddhisten. Und so stellt uns Gerhard Schweizer in dem vorliegenden Band die klassischen Pilgerorte vor – und verbunden damit auch die wichtigsten Aussagen der Weltreligionen selbst: Rom und Santiago de Compostela für das Christentum; Mekka, das exklusive Pilgerzentrum des Islam; Jerusalem, den heiligen Ort für Juden, Christen und Muslime; Konstantinopel und Istanbul, nach Auffassung des Verfassers für Christen genauso heilig wie für Juden.
Ein zweiter Abschnitt befasst sich mit dem Hinduismus und Buddhismus und anderen östlichen Religionen: Madurai, die größte hinduistische Pilgerstadt im Süden Indiens; Varanasi und Allahabad, die meistbesuchten Pilgerzentren der Hindus; Sarnath und Bodh, die wichtigsten spirituellen Zentren des Buddhismus; Tai Shan, der heiligste Berg Chinas; Kyoto, das religiös-kulturelle Herz Japans. Der Autor stellt sich dabei zugleich die Frage, warum Menschen unterschiedlicher Glaubensformen zu weit entfernt liegenden Heiligtümern pilgern, und er stellt dabei Gemeinsamkeiten fest. Er zeichnet die Legenden vom wundersamen Ursprung der heiligen Stätten nach und lässt deutlich werden, welches Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne sich dabei entwickelt hat. Er berichtet aus Orten, zu denen Millionen von Menschen strömen, die uns zum Teil nur vom Hörensagen oder überhaupt nicht bekannt sind, von den Menschen, die dort zusammenkommen, aber auch von den Wandlungen, denen diese Orte und Bräuche im Laufe der Jahrhunderte unterworfen waren und sind. Es sind Erfahrungsberichte, Schilderungen, Erlebnisse, Erzählungen eines Augenzeugen, der alle besprochenen Stationen mehrfach in seinem Leben besucht und dabei immer neue, vertiefende Einblicke gewonnen hat.
Man erkennt bereits an der Gliederung, dass hier keine einfache Reisebeschreibung vorliegt, sondern die einzelnen Orte, ihre Geschichte, ihre Zuordnung zum religiösen Geschehen, die sie pilgernd besuchen, hinterfragt werden. Erfahrungsberichte eines Augenzeugen stehen neben religionsgeschichtlichen Fakten, Pilgerreportagen neben Sachinformationen, Erzählungen neben historisch-kritischen Analysen, Gespräche mit Pilgern aus verschiedenen Religionen, welche die unterschiedlichen Vorstellungswelten, aber auch die Gemeinsamkeiten über alle Grenzen hinweg erkennen lassen. Der knappe Erzählstil konzentriert sich auf das Wesentliche, so dass eine geglückte Gleichgewichtigkeit zwischen Unterhaltung und Unterweisung gelungen ist.
Ergänzt wird der Textteil durch außergewöhnliches farbiges und schwarz-weißes Bildmaterial, durch ein Register der Pilgerorte, ein Personenregister und ein Verzeichnis ausgewählter Literatur. Schweizer ist es gelungen, bei der eingehenden Betrachtung der Pilgerorte Aspekte herauszuarbeiten, die sonst bei Abhandlungen über die einzelne Weltreligion oft nur am Rande erscheinen, und so auf seine Weise neue Einblicke in die großen, so breit gefächerten Religionen der Welt zu bieten. Beizupflichten ist dem Autor, wenn er willkürliche Eingriffe in den Ritus seitens wohlmeinender Priester als Missbrauch brandmarkt. Allerdings müsste man dann auch der Kirchenleitung vorhalten, sie habe einen liturgischen „Reformstau“ zu verantworten. Seit 1988 hat eine Studienkommission an der Revision des Messbuchs langjährig, intensiv und mit hoher Sachkompetenz gearbeitet. 23 Jahre danach wartet man immer noch auf das neue Messbuch!
Alles in allem ist es ein Buch für kirchliche Insider wie auch solche, die über eine gewisse Neugier verfügen. Sie können hier aus einem reichhaltigen Informationsangebot schöpfen. Skeptikern oder Fernstehenden hingegen dürfte manches zu glatt und harmonisierend behandelt vorkommen. So wäre ein weiteres lohnendes Projekt eine „Fundamental-Liturgik“ für Laien. Diese würde nicht einfach traditionelle Frömmigkeit absegnen, sondern auf alternative Modelle aufmerksam machen – mehr argumentativ als bekennerfreudig.
Bernhard Merten
Quelle: Eulenfisch Literatur 5 (2012), Heft 1, S. 20f.