Ingolf U. Dalferth / Karl Kardinal Lehmann / Navid Kermani
Das Böse
Drei Annäherungen
Freiburg u.a.: Verlag Herder. 2011
118 Seiten 16,00 €
ISBN 978-3-451-34057-4
Das Böse ist als Gegenstand im Rahmen der Theologie und der Philosophie zu verschiedenen Zeiten in eingehenden Untersuchungen bereits bedacht worden. Was unterscheidet demgegenüber eine zumal kurze Publikation mit Beiträgen des Religionsphilosophen Ingolf U. Dalferth, dem Mainzer Bischof Karl Kardinal Lehmann und dem Orientalisten und Schriftsteller Navid Kermani von jenen Legionen an Publikationen zum Thema, und was können drei Einzelbeiträge substantiell zu dieser Debatte beitragen, was nicht schon gesagt worden ist?
Zunächst ist bemerkenswert, dass alle drei Autoren über die Religionsgrenzen hinweg für das Christentum und den Islam festhalten, dass die Frage nach dem Bösen ihren Ausgang von dem nehmen muss, was Menschen als Leid in ihrem Leben erfahren und Gott gegenüber klagend als Übel ins Wort fassen. Das ist umso bemerkenswerter, als dies auch für Navid Kermani gilt: Denn aufgrund der Stellung des Koran und den Aussagen zum Verhältnis von Gott und Welt ist weder die Frage nach dem Leid noch eine damit verbundene Klage oder gar Anklage Gottes und schon gar keine Theodizee im klassischen Sinn als Rechtfertigung Gottes vorstellbar. Im Unterschied zu biblischen Texten und ihrem Verständnis im Christentum geht der Islam davon aus, dass im Koran Gott selbst spricht und damit aber die Frage nach dem Leid nicht einmal als Klage im klassischen Sinn der (christlichen) biblischen Tradition der Hiobdichtung im Vorfeld einer Theodizee auftritt bzw. gar nicht auftreten kann. Die Frage nach dem Leid hat als menschliche Frage in einer Schrift, die sich als Wort Gottes in unmittelbarem Sinn versteht, keinen Platz. Berichtet diese Schrift darüber hinaus zudem von dem harmonischen Verhältnis zwischen dem allmächtigen Gott und seiner Schöpfung, dann ist in diesem Kontext aufgrund des grundsätzlichen Verständnisses dieser Schrift und ihrer Schöpfungsaussagen kein Raum für einen Riss in der Schöpfung Gottes, der aber gerade die Voraussetzung der Thematisierung des Leids in der Welt als einer von dem allmächtigen Gott unabhängigen Wirklichkeit ist.
Während damit die Frage nach dem Leid als Übel und Ausdruck des Bösen erst nachträglich zur schriftlichen Begründung des Islam im Zuge der islamischen Tradition auftritt, wobei sich zwischen islamischer und christlicher Philosophie eindeutige wechselseitige Berührungspunkte und Einflüsse über die Chronologie der Geschichte hinweg zeigen, gehört diese Frage im Christentum von Anfang an (d. h. von der Heiligen Schrift an) zum Kernbestand des Ringens um ein gläubiges und zugleich (philosophisch) reflektiertes Gottesverhältnis. Das sachliche Problem ist bei der Frage nach dem Leid als Übel für den Menschen und Ausdruck des Bösen, wie denn gläubig und reflektiert damit umgegangen werden kann, da doch zu den herausragenden Prädikaten Gottes seine Allmacht und Güte gehören und dadurch das Leid eigentlich unerklärbar wird. In dieser Form wird die Frage nach dem Leid als Übel und Ausdruck des Bösen zur Theodizeefrage: Wie ist es möglich, dass ein allmächtiger und gütiger Gott das Leid auf der Welt zulässt, obwohl er die Möglichkeit aufgrund seiner Allmacht und den Willen aufgrund seiner Güte dazu haben müsste, dieses Leid zu vermeiden? Als Antwort auf diese Frage gibt es einerseits die Variante des Umgangs, Gottes Allmacht und Güte in Frage zu stellen und damit letztlich in letzter Konsequenz aufgrund des Leids in der Welt die Existenz Gottes anzuzweifeln. Als Antwort auf diese Frage gibt es aber auch die Möglichkeit, Verstehensversuche zu dieser Frage und dem mit ihr verbundenen Problem zu entwickeln.
Dabei ist die Einordnung des Bösen im Sinne seiner Kategorisierung, wie sie Karl Kardinal Lehmann in Anlehnung an die Tradition vorlegt, ein erster Schritt: Das Böse als metaphysisches Übel, als physisches Übel und als moralisches Übel. Die grundsätzliche Unvollkommenheit und Begrenztheit der Welt oder das Fehlen als physischer Mangel bzw. das ethisch-moralische Übel aufgrund einer freien Willensentscheidung des Menschen können den Grundwiderspruch nicht ausräumen, der darin besteht, dass Gott als Allmächtiger und zugleich Gütiger das Böse in welcher Form des Übels auch immer zulässt. Als philosophische Maßgabe für die Behandlung dieser Frage ist dabei für Karl Kardinal Lehmann klar, dass dem Bösen keine Eigenwirklichkeit neben dem Guten sozusagen als zweitem Prinzip zugesprochen werden kann, weil dies tatsächlich die Allmacht und Güte des Schöpfers gefährdete. Aus diesem Grund ist das Böse als „Mangel an Gutem“ zu bestimmen, dem der Mensch in seinem Willen zustimmt und sich damit gegen Gott verweigert.
Dass diese intellektuelle Antwort die Theodizeefrage in der geschilderten Fassung nicht aus dem Weg räumt, ist Karl Kardinal Lehmann genauso klar wie Ingolf U. Dalferth, die beide letztlich auch darin übereinstimmen, dass für das Christentum auf diese Frage als Antwort nur eines gelten kann: Die Überwindung des Bösen, in der Form ganz verschiedener Übel, ist prototypisch durch Jesu Passion und Auferstehung geschehen. Im Glauben an die Hingabe des Sohnes, der vom Vater aus der Dunkelheit des Todes errettet wird, nimmt der Sohn das Böse auf seine Schultern, so dass von hier aus Versöhnung und Erlösung „vom Bösen“ als Gabe und Aufgabe für den Menschen – im Sinne der „Vater unser-Bitte“ – bleibt. Das Christentum löst oder beantwortet damit nicht die Frage nach dem Leid und dem Übel als Zeichen des Bösen, sondern es gibt die Richtung vor, unter der diese Frage überhaupt erst in seinem Sinne richtig gestellt werden kann. In diesem Kontext weist Dalferth deshalb darauf hin, dass ein Übel immer Böses von etwas für jemanden ist. Bei der Frage nach dem Leid als Übel und Ausdruck des Bösen muss deshalb ein anthropozentrischer und ein theozentrischer Sinn der Frage unterschieden werden: Während es bei der Frage nach dem Übel für den Menschen darum geht, dass hier das Böse darin besteht, eine Person zu schädigen oder zu erniedrigen, geht es bei der Frage im theozentrischen Sinn darum, sachlich zu fragen, was Gott Leiden schafft: Als Antwort auf diese Frage gilt Dalferth das Gebot der Einheit von Gottes- und Nächstenliebe, weil es Gottes Absicht ist, Leben bereits auf dieser Welt im Sinne des Gebotes zu ermöglichen. Gott leidet also dann, wenn dieses Gebot als Ausdruck seines Willens missachtet wird.
Damit ist aber auch klar: Das Leid des bzw. der Menschen und das Leid Gottes sind ganz unterschiedlich, und nicht jedes Leid des Menschen widerspricht Gottes Willen, und unter Umständen schädigt ein durchaus moralisches Handeln Gott. Der provokante Schluss, den Dalferth zieht, ist deshalb, dass es nicht wahr ist, dass Gott das Böse nicht überwunden hat, wo Menschen noch leiden. Wenn wir immer noch Übel erleiden, dann ist das Böse, das Gott überwunden hat, nicht das, was uns Leiden zufügt, sondern das, durch das wir Gott Leiden zufügen. Das Böse, das also sozusagen unabhängig von Gottes Erlösungstat uns Leiden verschafft, ist das Böse, was wir selbst produzieren und durch das wir Gott Leiden zufügen. Gott ist daher für Dalferth immer schon durch das Gute gerechtfertigt, das er für seine Geschöpfe getan hat und tut. Die Erlösung vom Bösen ist daher eine Bitte im „Vater unser“, in der der Beter darum bittet, keinem Übel anheimzufallen, das ihn von Gott abschneidet, was allerdings nicht bedeutet, dass damit alles Leid der Welt behoben oder besser vernichtet ist. Insofern bietet das Christentum einen Glauben an, der auf der Hoffnung und dem Trost beruht, mit dem Leiden im Angesicht des Glaubens anders umzugehen. Die von Dalferth gegebene Antwort des christlichen Glaubens auf die Frage nach dem Bösen hält keine Erklärung des Leids bereit. Denn nach seiner Überzeugung spottet eine solche Erklärung des Bösen im Sinne der besten aller möglichen Welten, in der das Leid angesichts der überragenden Güte Gottes im Blick auf die Welt im Ganzen nur als ein untergeordnetes Phänomen eingestuft wird, dem konkreten Leid eines jeden Menschen.
Das Bändchen bietet mit diesen Schwerpunkten eine Orientierung zum Problem des Bösen, das freilich auch den Gläubigen in der Unterscheidung seines Leids von dem Gottes (Dalferth) angesichts traditioneller Gottesprädikate dennoch fragend zurücklässt. Dass das Böse damit ein Geheimnis (Karl Kardinal Lehmann) bleibt und der gläubige Mensch sich einem Übel ausgeliefert sieht, das nicht seinem Willen entspringt, lässt ihn nur auf Gottes Erbarmen hoffen (Kermani). Auf die Frage, warum der allmächtige und gütige Gott dieses Übel – auch wenn es kein Leid für Gott ist – nicht sofort beseitigt, bekommt der Glaubende – wie schon Hiob – keine Antwort. Er ist damit verwiesen an das Ende der Hiobdichtung im entsprechenden biblischen Buch.
Günter Kruck
Quelle: Eulenfisch Literatur 5 (2012), Heft 1, S. 53-55.