Frank van der Velden: Narrative religiöser Diversität aus dem Nahen Osten und Nordafrika

Buchvorstellung - 27.04.2023

Frank van der Velden erschließt in einer anspruchsvollen Arbeitshilfe verbreitete Selbsterzählungen aus arabischsprachigen Nachfolgestaaten des osmanischen Reiches für den Oberstufenunterricht.

Frank van der Velden
Narrative religiöser Diversität aus dem Nahen Osten und Nordafrika
Eine Arbeitshilfe für die pädagogische Praxis
Göttingen (Vandenhoek und Ruprecht unipress) 2023
Kostenloser download im PDF-Format unter der Lizenz CC-BY-ND 4.0 von der Seite
https://www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/themen-entdecken/literatur-sprach-und-kulturwissenschaften/interdisziplinaere-geisteswissenschaft/57544/narrative-religioeser-diversitaet-aus-dem-nahen-osten-und-nordafrika
ISBN E-Lib: 9783737014441
186 Seiten 3 Abbildungen

Vorüberlegungen zu den verwendeten Begriffen
Der Begriff „Narrativ“ hat Konjunktur. Die Suche über Google findet ihn in über 600 aktuellen Nachrichten. Zu den Narrativen gehören die Selbsterzählungen, durch die ein Kollektiv ein Bild von sich selbst entwirft. Frank van der Velde übernimmt von dem amerikanischen Historiker Hayden White (1928-2018) den Begriff des „Chronotope“, den der russische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin (1895-1975) in die Erzähltheorie eingeführt hat, um zum Ausdruck zu bringen, dass in einer Erzählung Ort und Zeit nicht unabhängige, objektive Kategorien sind, sondern die Zeit durch den Raum gegliedert und der Raum durch die Zeit mit Sinn erfüllt wird. Wie durch Rückprojektion die Selbsteinordnung eines Kollektivs in Form einer Vorgeschichte zum Ausdruck kommt, kann anhand des „Chronotope“ der Deutschen im ausgehenden 19. Jahrhundert exemplifiziert werden, von dem zum Beispiel das Denkmal am Kyffhäuser und das Hermannsdenkmal bei Detmold zeugen. Narrative stellen der erlebten Zeit eine erzählte Zeit gegenüber und das führt zu einer Spannung, die gesellschaftliche Aushandlungsprozesse fördern kann. Vergisst der Erzähler allerdings, dass er erzählt, kollabiert die konstruktive Spannung, Vorstellungen über das eigene „Wesen“ und das der anderen schließen aus. Die Monumente der deutschen Einheit richteten sich in den Augen der Rechten gegen die „inneren Feinde“, und dabei dachte man an Sozialdemokraten und Juden.

Von der Theorie zur Arbeitshilfe
Frank van der Velden thematisiert in diesem Buch das Chronotope der aus dem osmanischen Reich hervorgegangenen arabischsprachigen Staaten, das in sieben verbreiteten Narrativen exemplarisch entfaltet wird. In diesen Staaten kommt es allerdings zur erbitterten Auseinandersetzung um die Deutungshoheit zwischen einer staatstragenden und einer extremistischen Selbsterzählung, an der die typologische Unterscheidung zwischen ambiguitätsoffenen Narrativen und radikalen Alternativen durchgeführt werden kann. Dem dient die kritische Dekonstruktion der Narrative, in der auf die historischen Umstände sowohl der erzählten Zeit als auch die Entstehungsbedingungen der Erzählung selbst eingegangen wird. Zur „Arbeitshilfe“ wird das Buch durch „Didaktisierung“, die Auswahl geeigneter Medien und Herangehensweisen, um die Arbeit an den Narrativen im Unterricht mit Schülerinnen und Schülern der Oberstufe leisten zu können. Am Beispiel des Narrativs der „Landschaften Andalusiens“ fasse ich exemplarisch zusammen, wie Van der Velden das macht.

Das Beispiel „Landschaften Andalusiens“
Wer sich mit Scholastik befasst hat, kennt die Namen Averroes und Maimonides, ein muslimischer und ein jüdischer Gelehrter, denen Europa die Kenntnis großer Teile der griechischen Philosophie verdankt, und man hat schon mal davon gehört, dass Al Andalus, Spanien unter muslimischer Herrschaft, eine Landschaft des friedlichen Kulturaustausches gewesen sei. Es überrascht, dass dieses Narrativ unter deutschen Juden im 19. Jahrhundert entstanden ist, die so ihrer von Diskriminierung gekennzeichneten Situation im Kaiserreich ein positives Gegenbild gegenüberstellen wollten. Im Rahmen des arabischen Chronotope wird das Narrativ zum Beispiel in Ägypten wichtig, um der osmanischen und kolonialen Vorgeschichte ein Bild der nationalen Einheit unabhängig von der Religionszugehörigkeit entgegenzusetzen. Van der Velde verlinkt einen Film aus der Reihe „Planet Schule“, der die historischen Verhältnisse in Al Andalus dokumentiert. Ebenfalls verlinkt ist der ägyptische Autorenfilm „Dare to dream“ (2020), in dem eine Ägypterin jüdischen Glaubens ihren Traum artikuliert, am Leben in Ägypten gleichberechtigt teilnehmen zu können. Damit die Lernenden den sechsminütigen arabischsprachigen Film nachvollziehen können, bietet das Buch eine deutsche Übersetzung. Mit geeigneten (Selbst-) Beobachtungsaufgaben leitet Van der Velden dazu an, Diskriminierungserfahrungen wahrzunehmen und Konzepte einer diskriminierungsfreien Gesellschaft zu entwerfen und zu diskutieren.

Fazit
Von der Lektüre des Buches war ich fasziniert, weil es unscharfe und sporadische Kenntnisse der arabischen Welt durch präzise Analysen erweitert hat. Ob das Buch als Arbeitshilfe für den Unterricht eingesetzt wird, entscheidet sich daran, auf welchem Niveau über das friedliche Zusammenleben der Religionen in einer pluralen Gesellschaft diskutiert werden soll und kann.

Dr. Karl Vörckel, Grünberg

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