Uwe Habenicht setzt mit seinem neuen Buch fort, was er in seinem Buch "Freestye Religion" begonnen hat: Ideen zu beschreiben, wie Religion angeboten werden kann als Entlastung und nicht als zusätzliche zeitliche, spirituelle, moralische Belastung. Neu ist der konkrete Ort religiöser Erfahrung: die wilde Natur.
Uwe Habenicht:
Draußen Abtauchen
Freestyle Religion in der Natur
Würzburg (echter) 2022
Taschenbuch 192 Seiten ISBN 978-3-429-05742-8 Preis 16,90 €
EBook EAN: 9783429065676 Preis 13,99 €
Uwe Habenicht ist Pfarrer der evangelisch reformierten Gemeinde Straubenzell im Kanton St. Gallen. 2020 erschien von ihm das Buch „Freestyle Religion“, auf das der vorliegende Band zurückgreift. Das Ausgangsproblem der „Freestyle Religion“ ist das Hamsterrad der Selbstoptimierung, aus dem der Mensch einen Ausweg sucht. Doch traditionelle religiöse Institutionen verlängern gesellschaftliche Muster, beanspruchen den Menschen durch moralische Vorschriften oder spirituellen Leistungsstress noch zusätzlich. Die Gemeinde Straubenzell sucht neue kreative Wege zur Gottesbegegnung, zu denen das „Waldgwunder“ gehört, ein Raum für Gottesdienste im Wald.
Die Leitfrage des neuen Buches lautet: „Lässt sich Gottes Gegenwart in der Natur erfahren?“ Dazu referiert Habenicht in einem ersten Teil des Buches, was aus der Perspektive verschiedener Wissenschaften zum Kontakt mit der Natur zu sagen ist, etwa medizinische Studien, die den gesundheitsfördernden Effekt eines Aufenthaltes in der Natur der „Aufmerksamkeitserholung“ zuschreiben. Doch der naturwissenschaftliche Zugang zur Natur ist unzureichend, weil er die Subjekt-Objekt-Spaltung voraussetzt, während es darauf ankommt, den intermediären Raum zwischen der Innen- und Außenwelt des Menschen zu erfahren.
Dass gerade in diesem intermediären Raum die Nähe Gottes erfahren werden kann, dafür findet Habenicht Belege in der Naturphilosophie, die sich der Naturwissenschaft gegenüberstellt, vor allem bei Hermann Schmitz (1928-2021) und John Dewey (1859-1952). Eine zentrale Metapher ist die „Atmosphäre“, ein fluides Medium, in dem Umgebungsqualitäten und subjektives Befinden aufeinander bezogen sind, ein Ganzes, in das wir eintauchen, das Affektwellen in uns hervorruft. Lesen im Buch der Natur führt ebenso wie Lesen in Büchern dazu, dass sich die äußere Welt und die eigene Erfahrung zu einem Dritten verbinden. Im intermediären Raum ist Gottesbegegnung möglich, wenn sich die Frage „Hast du das erfunden oder vorgefunden?“ nicht mehr sinnvoll stellen lässt. Die Nähe Gottes in der Natur ist eine Erfahrung, die sich sprachlich nicht fassen lässt. Aber die Religion ist Verhalten aus Betroffenheit vom Göttlichen und will gemeinschaftlich geteilt sein. Glaubensüberzeugungen und Riten sind die Matrix der Gotteserfahrungen.
Freestyle-Religion umfasst Kontemplation, Weltgestaltung und gemeinsame Feier. Die Straubenzeller Waldkirche, das „Waldgwunder“, ist nicht ein Ort für Outdoor-Gottesdienste nach traditionellem Schema, sondern ein Raum für individuelle und gemeinschaftliche Erfahrungen in der Wildnis. Der Ablauf eines Gottesdienstes wird abschließend im Buch beschrieben; in den Kapiteln zuvor sind Übungen und literarische Texte eingestreut, die helfen sollen, die Natur- und Gottesbegegnungen, von denen geschrieben wird, auch selbst zu erproben.
Das Buch ist nicht ganz leicht zu lesen, was zum Teil bedingt ist durch die vielen eingearbeiteten Zitate zahlreicher Autoren. Belohnt wird derjenige, der sich der Mühe unterzieht, durch Ideen, die dazu inspirieren, im gemeinschaftlichen Gottesdienst und der persönlichen Kontemplation einmal etwas andere Wege zu beschreiten. Für mich nehme ich die Anweisung mit: Tauche ein in die Wildnis und lass dich auf das ein, was passiert. Ob dazu der erhebliche, in 198 Anmerkungen belegte, rezeptive Aufwand in vollem Umfang erforderlich war, darf bezweifelt werden.
Eine Rezension von Karl Vörckel