Joachim Kunstmann profiliert die Religionspädagogik als theologische Praxistheorie religiösen Lernens. In der Nachfolge Schleiermachers begreift er Religion als kommunikative Praxis über tiefes Erleben. In der modernen Welt ein Fremdkörper, ist religiöse Bildung gleichwohl neben der ästhetischen Bildung, der sie verwandt ist, zur freien Entfaltung der Person unerlässlich.
Joachim Kunstmann:
Religionspädagogik
utb. Theologie/Religionswissenschaft
3. überarbeitete Auflage
Tübingen (Narr Francke Attempto) 2021
434 Seiten
ISBN 978-3-8252-5628-9
29,90 €
Definition der Religionspädagogik
Kunstmann definiert Religionspädagogik als theologische Praxistheorie religiösen Lernens, als Ziel religiösen Lernens wiederum religiöse Bildung. Dazu muss die Religionspädagogik Anwältin des Gegenwartsbezugs der Theologie sein und benötigt Kompetenzen in drei Bereichen: Christliche Tradition, Erscheinungsformen der Religion, Kenntnis der Subjekte. Sie muss also im Gespräch stehen mit Theologie, allgemeiner Pädagogik, Sozialwissenschaften und - für Kunstmann am wichtigsten - den Kulturwissenschaften, ohne aber sich von systematischer Theologie oder Pädagogik ihre Agenda vorgeben zu lassen.
Grundlagen
Religiöse Bildung wird scharf abgegrenzt gegen Ausbildung, aber auch von Erziehung und Sozialisation unterschieden, die Kunstmann zufolge in eine vorhandene Kultur einüben, während von Bildung erst dann gesprochen werden kann, wenn es um die freie Entfaltung der Person geht. Entsprechend wird die Geschichte der Religionspädagogik, der jüngsten Disziplin der Theologie, als Entwicklungsgeschichte erzählt, die mit der liberalen Religionspädagogik und der evangelischen Unterweisung beginnt und in der subjektorientierten Religionspädagogik ihren fortschrittlichsten Stand erreicht hat. Das Grundlagenkapitel schließt ab mit einem Durchgang durch die verschiedenen Lebensabschnitte eines Menschen und der Rolle der Religion darin.
Umfeld der Religionspädagogik
Das zweite Kapitel seziert die Lernorte der Religion. Hier kommt Kunstmanns tendenziell negative Einstellung zur Moderne – manchmal unterschwellig – zum Ausdruck: Die Familie leidet unter den hohen Erwartungen, die nicht durch entsprechenden Einsatz gedeckt sind, es herrscht religiöser Analphabetismus, Schule und Universitäten sind ökonomisch verzweckt, betreiben Selektion; Kompetenzorientierung führt zum Verlust der Würde der Inhalte. Die Bildungsinstitutionen betreiben fast nur Ausbildung, keine Bildung, sie werden – wie die Moderne insgesamt – getrieben von Systemrationalitäten und zielen auf den menschlichen Roboter.
Religiöses Lernen, Kernprobleme und Perspektiven
Das dritte Kapitel ist der Religionsdidaktik gewidmet, das vierte den Problemen religiösen Lernens und das abschließende seinen Perspektiven. In der Schule, dieser Institution des Vereindeutigungszwanges ist Religion ein Fremdkörper. Denn sie hat nichts zu tun mit Stoffvermittlung, Rationalität, Faktenwissen ohne Bedeutungsbezug, wie es in unseren Schulen verbreitet ist. Wissensstoff behindert religiöse Bildung. Religiöses Lernen ist am ehesten verwandt mit ästhetischem Lernen, wie es im Kunst- und Musikunterricht möglich sein sollte. Die traditionelle Theologie ist wirkungslos, weil sie weitgehend unreflektiert dogmatische Sprache benutzt, mit einer der Metaphysik abgelernten Rationalität argumentiert, die von der symbolischen Logik echter religiöser Sprache weit entfernt ist. An vielen Stellen des Buches wird die Vermittlung von Fakten als völlig untauglich für das religiöse Lernen verworfen, stattdessen geht es um symbolische Kommunikation, Ausdruck von Gefühl, denn Religion ist im Kern eine kommunikative Praxis über tiefes Erleben, ein Austausch über religiöse Erregung (Schleiermacher). Religion ist deshalb nicht lehrbar, wie alle echte Bildung kennt auch die religiöse keine vorgegebenen Ziele, sondern nur Anlässe und Maßstäbe. Die spärlich gesäten Hinweise, wie man solchen Ansprüchen in Religionsunterricht und Katechese gerecht werden kann, schildern das Bibliodrama, den konfrontativen Umgang mit Psalmen, den Baldermann vorgeschlagen hat, Kirchenräume und die Liturgie als Orte religiöser Erfahrung, allerdings nicht mit dem Ziel, bereits praktizierte Liturgie nachzuvollziehen, sondern gleichsam neue Riten zu entwerfen. Gefragt sind Lebemeister, nicht Lehrmeister, Lebenshermeneuten, nicht Texthermeneuten. Da nicht alle zu religiöser Bildung im geschilderten Sinn hingeführt werden können, ist doch die Weckung von religiösem Interesse für Kunstmann durchaus ein lohnendes Minimalziel.
Kritische Anfragen
Obwohl sich Kunstmann im Vorwort der Neutralität verpflichtet sieht, bezieht sein Buch von Anfang bis Ende dezidiert Position. Sein Kirchenvater ist Friedrich Schleiermacher (1768-1834), der Patron des deutschen Patriotismus und der Romantik. Immer wieder kommen dieselben Gedanken zum Ausdruck: Bildung ist Selbstbildung, Gefühl ist wichtiger als Rationalität, religiöses Lernen darf nicht in Stoffvermittlung abgleiten. Mich verärgern unbegründete Bemerkungen, als verstehe sich von selbst, dass ältere Menschen ihre Zeit wenig sinnvoll ausfüllen, dass die Idee einer jungfräulichen Geburt für das moderne Leben kaum noch hilfreich sei (war sie in der Antike „hilfreicher“?), dass die Exegese außer historischer Kritik nichts zu bieten habe, dass Jesus das Reich Gottes verkündete und Paulus den erhöhten Christus erfand (War das nicht gerade die Pointe einer bestimmten Schule historischer Kritik?), dass es zu einer Absenkung des Niveaus an Gymnasien kam, seit ein höherer Anteil der Heranwachsenden sie besucht. Bringt es etwas, in einem so umfangreichen Werk ganze 20 Zeilen den Förderschulen zu widmen, ohne den Begriff Inklusion auch nur zu erwähnen? Kann man über Bildung und Erziehung in der Schule reden, ohne die Arbeit der Klassenleitung zu würdigen? Kann man Gegenwartsbezug in Anspruch nehmen, ohne die Transformation der Gesellschaft in Richtung intelligenterer Steuerung und Nachhaltigkeit zu berücksichtigen? – Ich denke, in einer Zeit alternativer Fakten und gefühlter Wahrheiten sollte man weniger Themen ansprechen, diese aber gründlicher und bis in die praktischen Folgen durchdenken.
Eine Rezension von Karl Vörckel