Doppelrezension "Trotzdem" und "Jeder Mensch"

(Quelle: Trotzdem/Jeder Mensch - Ferdinand von Schirach, Alexander Kluge)
Buchvorstellung - 09.09.2021

Im Gesprächsband "Trotzdem" tauschen sich die Filmemacher Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge zum Thema Menschenrechte aus. In dem Bändchen "Jeder Mensch" arbeitet Ferdinand von Schirach eine Idee aus dem Gespräch aus, nämlich den Menschenrechtskatalog um sechs Grundrechte zu erweitern.

 

Doppelrezension:

Ferdinand von Schirach, Alexander Kluge

Trotzdem

München (Luchterhand) 2020

80 Seiten

8 EURO

 

Ferdinand von Schirach:

Jeder Mensch

München (Luchterhand) 2021

32 Seiten

5 EURO

Im Gesprächsband Trotzdem unterhalten sich die Filmemacher Alexander Kluge (*1932) und Ferdinand von Schirach (*1964) über die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Menschenrechtsfrage. Im lockeren Gespräch streifen sie verschiedene Aspekte des Problems, etwa, dass die Wissenschaft das Virus erst kennen lernen musste, die Politik sich also durch Versuch und Irrtum an die zweckmäßigsten Maßnahmen herantasten musste, um sowohl Gesundheit als auch Freiheitsrechte zu schützen.

Geschichte der Menschenrechte

Sie führen die Geschichte der Grundrechte auf die Trennung von Staat und Kirche zurück, die sich seit der Auseinandersetzung zwischen Papst Gregor VII. und Kaiser Heinrich IV im 11. Jahrhundert entwickelte. Sie erzählen sich von John Locke, dessen Bücher von der Kirche verboten wurden, und von den Erklärungen der Menschenrechte in den USA und Frankreich, die sie als Utopien bezeichnen, weil sie von Sklavenhaltern unterschrieben wurden. Hier darf kritisch angemerkt werden, dass die Autoren der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und Verfassung, sowie der französischen Verfassung nicht nur Sklaven vom allgemeinen Gleichheitsgrundsatz ausnahmen, sondern auch Frauen. Olympe de Gouche (1748-1793), die sich für Frauenrechte, Aufhebung der Sklaverei und Abschaffung der Todesstrafe einsetzte, wurde auf Veranlassung Robespierres geköpft.

Katastrophen als Entwicklungsschübe

In einem zweiten Gespräch geht es um die großen Katastrophen der europäischen Geschichte, die Seuchen des Mittelalters, das Erdbeben von Lissabon 1755, und darum, dass die Krisen stets Neues hervorbrachten. Was werden wir aus der Coronakrise lernen? – Mit der Verbesserung des Gesundheitswesens ist es nicht getan; die Zusammenarbeit der europäischen Länder könnte in einer europäische Verfassung geregelt werden; es könnte zusätzliche Grundrechte geben, die auf veränderte Herausforderungen antworten.

Sechs neue Grundrechte

Diesen Vorschlag arbeitet Ferdinand von Schirach in dem Bändchen Jeder Mensch aus. Er wiederholt die Vorgeschichte der großen Menschenrechtserklärungen, die er Utopien nennt, weil sie nicht die damaligen Zustände, sondern künftig erwünschte Zustände beschreiben. Als Motivation seines Engagements nennt Schirach die Beteiligung eines seiner Vorfahren, Arthur Middleton, an der amerikanischen Unabhängigkeit und die Beteiligung seines Großvaters Baldur von Schirach an den nationalsozialistischen Verbrechen. Er fordert die Leser auf, diesen Rechten in einer Petition an die Europäische Kommission zuzustimmen.

Die sechs ergänzenden Rechte umfassen eine gesunde Umwelt, digitale Selbstbestimmung, die Entscheidungshoheit des Menschen im Gegensatz zu Algorithmen, Wahrhaftigkeit der Amtsträger, menschenrechtskonforme Produktion und das Recht auf Grundrechtsklagen vor europäischen Gerichten.

Rechte oder Pflichten?

Die Themen sind zweifellos relevant, doch finde ich nicht sehr zielführend, die genannten Utopien als Rechte zu formulieren. Denn wenn man von der digitalen Selbstbestimmung absieht, die durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes seit 1983 als „informationelle Selbstbestimmung“ Teil der deutschen Rechtsordnung ist, geht es eigentlich um die Pflicht, sich wahrheitsgemäß zu informieren, sowie umweltschonend und menschenrechtskonform zu konsumieren. Wenn diese Verpflichtungen den Bürgern gleichgültig sind, dann kann der Staat ihnen Wahrheit, gesunde Umwelt und weltweite Einhaltung der Grundrechte auch nicht als Rechtsanspruch garantieren. Eine „Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten“ wurde 1997 von einer Vereinigung ehemaliger Staatslenker veröffentlicht, mit leider geringer Resonanz. Mehr Aufmerksamkeit findet, wer wie Ferdinand von Schirach die Menschen auf Rechtsansprüche hinweist.

 

Von Dr. Karl Vörckel

 

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