Thorsten Knauth / Wolfram Weiße (Hrsg.):
Ansätze, Kontexte und Impulse zu dialogischem Religionsunterricht
Religionen im Dialog, Band 19
Münster (Waxmann) 2020
ISBN 978-3-8309-4213-9
EBook-ISBN 978-3-8309-9213-4
415 Seiten
Taschenbuch: 37,90 €, EBook: 33,99 €
An dem voluminösen Band haben 33 Autorinnen und Autoren mitgewirkt, die sich unter den verschiedensten Perspektiven mit dem Hamburger Modell eines „Religionsunterricht für alle“ auseinandersetzen, der auch unter dem Etikett „dialogischer Religionsunterricht“ bekannt ist und vielen als Vorbild für den Religionsunterricht der Zukunft gilt.
Religionsunterricht für alle in Hamburg
Im Bundesland Hamburg fand in der Nachkriegszeit in den öffentlichen Schulen nur evangelischer Religionsunterricht statt, weil die katholische Kirche auf konfessionellen Religionsunterricht verzichtete. Der Duisburger Religionspädagoge Thorsten Knauth schildert, wie Politik und Wissenschaft darauf reagierten, dass in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts der Anteil der muslimischen und konfessionslosen Schülerinnen und Schülern zunahm. Es galt, Ansätze zu einer religionsbezogenen Pluralisierung der Lehrerbildung zu entwickeln und institutionell zu verankern. Die nach mehreren Vorstufen 2010 gegründete Akademie der Weltreligionen mit Professuren zum Islam, zum Alevitentum und seit 2019 zum Buddhismus hat die Aufgabe, in gemeinsamer Verantwortung der Beteiligten interreligiöse dialogische Lernprozesse zu gestalten und zu reflektieren. Das didaktische Konzept geht von der religiösen Identität der Schülerinnen und Schüler aus, deren in konfessorischer Rede vorgebrachte Gewissheiten unbedingt zu achten sind, während zugleich die Frage, wer hat recht, offen bleibt und jeder Absolutheitsanspruch aufzugeben ist.
Weiterentwicklung und rechtliche Stellung
Birgit Kuhlmann, auf Seiten der Nordkirche für das Hamburger Modell zuständig, beschreibt die Weiterentwicklung zu einem „Religionsunterricht für alle 2.0“. Seit 1995 übten Vertreter der Weltreligionen und der Hamburger Behörden, informell in einem Gesprächskreis interreligiöser Unterricht verbunden, zwar Einfluss auf den Religionsunterricht für alle aus, gehalten wurde er aber ausschließlich von evangelischen Lehrkräften. In Gesprächen seit 2009 wurde nun dem Wunsch islamischer und alevitischer Verbände Rechnung getragen, mit eigenen Lehrkräften am Religionsunterricht teilzunehmen. Seitdem 2012 Staatsverträge mit den muslimischen Verbänden und den Aleviten abgeschlossen wurden, ist das auch möglich. Der Preis ist, dass die Religionsgemeinschaften, mit denen keine Staatsverträge abgeschlossen wurden, auch keinen Einfluss mehr auf den Religionsunterricht für alle haben, wie die Gastprofessorin für Buddhismus an der Akademie der Weltreligionen, Carola Roloff, in ihrem Aufsatz beklagt.
Als didaktische Grundsätze des weiterentwickelten dialogischen Religionsunterrichtes nennt Kuhlmann die Förderung individueller Religiositätsentwicklung, die Quellenorientierung anstelle der Traditionsorientierung und das Abwechseln dialogischer und religionsspezifischer Phasen des Religionsunterrichtes. Die religionsspezifischen Phasen werden zwar auch im Klassenverband unterrichtet, aber entweder in zeitlicher Abfolge oder in Form innerer Differenzierung erhalten die Lernenden Gelegenheit, sich mit der inneren Systematik einer Konfession zu befassen, indem ihnen zum Beispiel „die christliche Großerzählung ohne Ermäßigung“ als Lernstoff zur Verfügung gestellt wird.
Kuhlmann berichtet von einem Rechtsgutachten aus dem Jahr 2019 von Hinnerk Wißmann und Peter Unruh, das zum Ergebnis kommt, dass ein „multireligiös trägerpluraler Religionsunterricht“ bei „rechtsgestaltender Neudeutung“ des Art 7.3 des Grundgesetzes grundsätzlich zulässig sei.
Vergleiche aus verschiedenen Positionen
In den anderen Großkapiteln des Bandes kommen Positionen zum Religionsunterricht für alle, Alternativen und unterschiedliche Kontexte zur Sprache. Clauß Peter Sajak vergleicht das Hamburger Modell mit dem konfessionell kooperativen Religionsunterricht, der in Baden-Württemberg erprobt und evaluiert wurde. Monika Jakobs trägt Beobachtungen aus der Schweiz bei und Jasmine Suhner zusätzlich aus Österreich. Judith Könemann fragt nach der Rolle „religiös unmusikalischer“ (Habermas) Menschen im Religionsunterricht, Ulrich Vogel eruiert gemeinsame Perspektiven religiöser und philosophischer Bildung. Handan Aksünger-Kizil bettet die Teilnahme am Hamburger Modell in die Geschichte der alevitischen Gemeinde ein, und Halima Krausen schildert die Bedeutung der Teilnahme am Modell aus der Sicht des Moscheeverbandes Schura. Während die Aleviten dankbar sind, ihre Religion in Deutschland überhaupt an öffentlichen Schulen vertreten zu können, sieht die Schura nach einem Bericht des NDR vom 19. März 2019 kritisch, dass 1600 evangelischen Religionslehrkräften nur ganze vier muslimische gegenüberstehen, obwohl der muslimische Anteil an der Schülerschaft 20 Prozent beträgt.
Kritische Stimmen
Das Buch lässt schließlich kritische Stimmen zu Wort kommen. Jana Philippa Parenti, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hamburg, sagt, dass eine gerechte Aufteilung der Unterrichtszeit zwischen den Religionsgemeinschaften (in Hamburg gibt es mehr als 100) nicht möglich sei und kritisiert von daher die Einführung religionsspezifischer Phasen in den Religionsunterricht für alle. Überhaupt machen die islamischen Verbände eher halbherzig mit und setzen nach wie vor auf islamischen Unterricht an Wochenenden in den Moscheen. Die Hoffnung, den Einfluss der türkischen Religionsbehörde auf in Deutschland lebende Muslime durch einen Religionsunterricht für alle zurückzudrängen, dürfte also kaum realistisch sein.
Berhard Grümme, Religionspädagoge an der Ruhr-Universität Bochum, diskutiert die Möglichkeit, dass es im dialogischen Religionsunterricht zu einer „Vergegnung“ (Martin Buber) der Beteiligten kommen könnte, denn die Absolutsetzung des dialogischen Prinzips bewirkt eine „Wahrheitsschwäche“ des didaktischen Prozesses und schließt Selbstkritik aus. Thorsten Knauth und Dörthe Vieregge berichten von Unterrichtsbeobachtungen in Hamburg und Duisburg und kommen zum Fazit, dass die beobachteten Lehrkräfte aus Unsicherheit hinsichtlich ihrer Rolle und der im Unterricht verhandelten Inhalte Dialogräume schließen, sodass inhaltliche Offenheit in Beliebigkeit umschlägt.
Zusammenfassendes Urteil
Der Band versammelt sehr heterogene Beiträge. Klar wird das Problem, das der Religionsunterricht für alle in Hamburg auflösen soll. Klar wird auch, dass nicht alle mit dieser Lösung zufrieden sein können. Das Problem, dass Lernende im Religionsunterricht beschult werden, deren „Position“ im Curriculum nicht oder zu wenig berücksichtigt wird, bleibt unvermeidlich. Und die Ansprüche an die Lehrkräfte, die einerseits die Lernenden in die Lage versetzen sollen, Religionen in ihrer eigenen Systematik kennen zu lernen, anderseits eine moderierende Rolle einnehmen sollen, so dass das Konfessorische verschiedener Religionen sich auf Initiative der Lernenden zum Ausdruck bringen kann, erscheinen sehr hoch, und Unterrichtsbeobachtungen offenbaren, dass diesen Ansprüchen nicht alle Religionslehrerinnen und Religionslehrer gerecht werden.