Dynamische Gleichnisauslegung

Buchvorstellung - 07.03.2010

Manfred Köhnlein
Gleichnisse Jesu – Visionen einer besseren Welt


Stuttgart : Kohlhammer 2008
285 Seiten
€ 25,-
ISBN 978-3-17-020569-7

Mit einem Buch über die Gleichnisse hat Manfred Köhnlein den vierten Band seiner Reihe über Jesus und das NT vorgelegt. Der Autor ist nicht nur em. Professor für Evangelische Theologie/Religionspädagogik an der PH Schwäbisch-Gmünd, sondern auch ein hoch engagierter Zeitgenosse, der im Herbst 2009 für seine jahrzehntelange ehrenamtliche Tätigkeit in Gefangenenbetreuung, Flüchtlingsarbeit, Friedenspolitik u.v.m. mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt wurde. Dieses politisch-soziale Engagement spricht auch aus seinem Gleichnisbuch.

Eine distanziert-nüchterne Analyse ist Köhnleins Sache nicht. Er bezieht Stellung und ergreift Partei, und so führt ihn die Auslegung der Gleichnisse mal zu einem Plädoyer für eine soziale, staatliche Grundsicherung (S. 56f zum Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, Mt 20), mal zu einem wirkungsgeschichtlichen Exkurs über Himmel, Hölle und Fegefeuer (75-77 zum Gleichnis vom reichen Mann und dem armen Lazarus, Lk 16) und wieder ein anderes Mal zu einer Reflexion über Selbst- und Nächstenliebe sowie die Gefahren, im sozialen Engagement ausgenutzt oder, wie
z.B. im Gesundheitswesen, in allzu professionell-rationalisierte Strukturen hineingezwängt zu werden (92f zum Gleichnis vom barmherzigen Samariter, Lk 10).
Solche konkreten gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Auslegungen entsprechen gut dem kommunikativ-didaktischen Gleichnisbegriff, den Köhnlein in einer knappen Einleitung (S. 11-16) vor dem Hintergrund der Gottesreichs-Praxis Jesu entwirft: „Gleichnisse … sind aufrüttelnd, wenn nicht gar überraschend. Sie laden uns ein, Reformen zu riskieren, indem sie uns eine Gesellschaft zeigen, wie sie sein könnte, wenn wir uns nur ändern und bewusst auf sie hinarbeiten würden (…) Sie sind wohlüberlegte Provokationen, die bei den Hörern oder Lesern eine Reaktion herausfordern“ (13f).
Exegetische Grundlage seines Buches ist – neben der selbstverständlichen eigenständigen Textanalyse, bei der sich Köhnlein auf die Erzähldynamik der Gleichnisse und auf sozialgeschichtliche Aspekte konzentriert – nach Ausweis des Vorwortes (9f) der Evangelisch-katholische Kommentar zum NT (EKK) sowie das Gleichnisbuch von Luise Schottroff, das einen sozialgeschichtlichen Ansatz mit einer eschatologischen Deutung der Gleichnisse verbindet (Die Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2005, rez. von M. Hartmann in BiKi 63 (2008), 107f sowie bbs 5/2008, abrufbar unter http://www.biblische¬buecherschau.de/2008/Schottroff_Gleichnisse%20Jesu.pdf). Das 2007 von Ruben Zimmermann herausgegebene Kompendium der Gleichnisse Jesu (rez. von M. Hartmann in BiKi 63 (2008), 108f sowie bbs 5/2008, abrufbar unter
http://www.biblische-buecherschau.de/2008/Zimmermann_Kompendium%20der%20Gleichnisse%20Jesu. pdf) hat Köhnlein noch nicht rezipiert. Inwieweit sich die darin vorgenommene Abkehr von der auf A. Jülicher zurückgehenden, klassischen Unterteilung der Gleichnisse (Gleichnis im engeren Sinn – Parabel – Beispielerzählung) zu Gunsten eines einheitlichen Begriffes „Parabel“ durchsetzen wird, bleibt noch abzuwarten. In diesem Sinne bietet Köhnlein einen „status quo ante“. Insgesamt interpretiert Köhnlein 27 Gleichnisse aus den synoptischen Evangelien (v.a. „Parabeln“ und „Beispielerzählungen“ gemäss der klassischen Unterscheidung) sowie einige Gleichnisreden auch in grösseren erzählerischen Zusammenhängen (Lk 15, Mk 4, Mt 13). Der Auslegung ist jeweils die revidierte Lutherübersetzung (1984) vorangestellt. Nahezu jedem Gleichnis ist eine eindrucksvolle Strichzeichnung des jüdischen Künstlers Jehuda Bacon beigefügt, mit dem Köhnlein bereits in früheren Büchern zusammengearbeitet hat.
Die grosse Stärke des Buches liegt in der sorgfältigen, textgetreuen und trotzdem kreativ-fantasievollen Lektüre, mit der Köhnlein die Erzähldynamik der einzelnen Gleichnisse nachzeichnet und die Texte in ihre konkreten sozialgeschichtlichen Zusammenhänge, oft genug aber auch in die Auslegungsgeschichte einordnet. Dabei zeigt er auch auf, wie überraschend unterschiedlich viele Gleichnisse interpretiert werden können. Hier folgt Köhnlein in vielen Einzelfragen L. Schottroff, die nachdrücklich problematisiert hat, ob Erzählfiguren wie z.B. Hausherren oder Könige, die öfters ja ausgesprochen ambivalent gezeichnet sind, mit Gott identifiziert werden müssen, wie es meist geschieht, oder ob nicht vielmehr die ganze Bildebene des Gleichnisses einschliesslich aller offenen und anstössigen Fragen mit dem Gottesreich als Ganzem verglichen werden sollte, damit das Gleichnis seine kritisch¬eschatologische Dynamik freisetzen kann. Im ersten Fall kommt es zu den notorisch bekannten Problemen, dass die LeserInnen z.B. den (auch) grausamen König aus Mt 18,23-35 mit ihrem eigenen Gottesbild in Beziehung setzen müssen. Im zweiten Fall ist immer wieder auch eine widerständige Reaktion/Interpretation möglich: „So wie dieser Hausherr, König, Verwalter … ist Gott – hoffentlich – gerade nicht!“ Indem Köhnlein oft mehrere Deutungsmöglichkeiten nebeneinander stellt und dann eine favorisiert, führt er praktisch vor, was leserInnenorientierte Exegese und Rezeptionsästhetik seit längerem betonen: Es sind die Lesenden selbst, die einen wesentlichen Beitrag zur Sinnkonstruktion von Texten leisten. Das allein ist bereits ein enormer Erkenntnisgewinn für solche LeserInnen, die vielleicht noch hoffen, in einem Fachbuch die eine, „richtige“ Auslegung eines Gleichnisses zu finden.
Ein angesichts der höchst problematischen Wirkungsgeschichte des Gleichnisses besonders bedenkenswertes, aber keineswegs unumstrittenes Beispiel für die neuen Auslegungswege, die Köhnlein in Anlehnung an L. Schottroff geht, betrifft das Gleichnis von den „bösen Winzern“ (Mk 12 par): „Das grundsätzliche Auslegungsproblem lautet: Auf wen sollen die Personen des Gleichnisses bezogen werden? Soll man sie sozialgeschichtlich als reale Vertreter der Verhältnisse zur Zeit Jesu verstehen, also als einen wirklichen Grundherrn und als wirkliche Winzer der damaligen Zeit? Oder muss man in ihnen allegorisch das ‚heilsgeschichtliche’ Schicksal Israels und Jesu verkörpert sehen? (…) Sooft Gott mit dem Weinbergbesitzer identifiziert wurde, galt die Hinrichtung der Weingärtner (V. 9b) als Bild für die ‚Verwerfung Israels’ durch Gott, und in den ‚andern’, denen der Weinberg übertragen wurde (V. 9c), sah man die Urchristen bzw. die Kirche angesprochen. Heute muss man strikt dagegen halten: Für eine solche ‚tödliche’ Allegorisierung hat die Theologie nach den Gräueln der Shoah keine geistliche Erlaubnis mehr – und eigentlich auch nie zuvor eine solche besessen. Das Gleichnis ‚Von den bösen Weingärtnern’ muss zunächst vor allem realgeschichtlich als eine Erzählung Jesu verstanden werden, in denen [sic] er als der große kritische Friedensstifter die Verhältnisse seiner Zeit geißelt, aber auch vor Blutvergießen warnt“ (172).
Hier und da „weiss“ Köhnlein ein wenig mehr als, genau genommen, im jeweiligen Text steht. So lässt er z.B. den Weinbergbesitzer in seiner Auslegung des Gleichnisses von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20) vor der Lohnauszahlung in sein Haus zurückkehren und die Tagelöhner in einer „Protestkolonne“ zu ihm ziehen (51f). Und auch zu den Fragen, ob Lukas tatsächlich Arzt und Paulusschüler war (62f) oder ob „auf den Hund kommen“ bereits als antikes Sprichwort bekannt war (68), kann man mit guten Gründen anderer Meinung sein. Doch solche Kleinigkeiten fallen bei der anregenden Lektüre, die das Buch insgesamt bietet, nicht ins Gewicht. Wesentlich ärgerlicher ist da schon Köhnleins konsequent androzentrische Sprache: Jüngerinnen, Lehrerinnen, Religionspädagoginnen, Schülerinnen und auch Leserinnen kommen in seinem Buch nahezu nicht vor, und wenn da nicht die Gleichnisse Jesu von der suchenden Frau (Lk 15), der hartnäckigen Witwe (Lk 18), den zehn Jungfrauen (Mt 25) oder der teigknetenden Frau (Lk 13) wären, die Köhnlein interpretiert, könnte man sich in einer reinen Männerwelt wähnen (hauptsächliche Ausnahme: eine knappe Zusammenfassung von „Frauengeschichten“ bzw. „Frauenstoff“ (sic!) v.a. im Lk, vgl. 144f). Doch mit diesem
– bitteren – Wermutstropfen ist Köhnleins Buch nicht nur für die angepeilten Arbeitsfelder und Zielgruppen („Mein Anliegen ist …, Erkenntnisse der Bibelwissenschaft für den Religionsunterricht und die Erwachsenenbildung zu ‚übersetzen’“, 9), sondern auch für interessierte LeserInnen ohne biblisch¬theologische Vorbildung nachdrücklich zu empfehlen. Wer darüber hinaus gerade für den Religionsunterricht methodisch und gleichnistheoretisch stärker reflektieren oder sich in andere aktuelle Auslegungen und fachwissenschaftliche Details vertiefen will, dem/der seien zusätzlich das von Peter Müller/Gerhard Büttner/Roman Heiligenthal/Jörg Thierfelder herausgegebene Buch Die Gleichnisse Jesu. Ein Studien- und Arbeitsbuch für den Unterricht, Stuttgart 2002, rez. von M. Hartmann in BiKi 63 (2008), 106f sowie bbs 5/2008, abrufbar unter http://www.biblische-buecherschau.de/2008/Mueller_Gleichnisse%20Jesu.pdf, sowie das bereits erwähnte, von R. Zimmermann herausgegebene Kompendium der Gleichnisse Jesu empfohlen.

Detlef Hecking

Quelle: Katholisches Bibelwerk e.V. Stuttgart, Biblische Bücherschau 1/2010

 

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