Die Zehn Gebote als Freiheitswegweiser

Buchvorstellung - 20.05.2009

Anselm Grün
Die Zehn Gebote
Wegweiser in die Freiheit

Münsterschwarzach: Vier Türme Verlag 2006
173 Seiten
ISBN 3-87868-728-1

Theologische und religionspädagogische Literatur zum Dekalog – natürlich seit jeher ein „Evergreen“, und dies natürlich mit guten Gründen: Kaum ein anderer Text hat in unserem Kulturkreis eine vergleichbare Rolle in Bezug auf eine solch prägekräftige Konstanz und einen solch immensen Adressatenkreis gespielt wie dieser.
 

Und besonders heute in einer Situation, die man ohne Übertreibung als Epochenumbruch bezeichnen kann (im Blick auf globale, aber auch nationale Herausforderungen wie etwa die erst jetzt aufgebrochene Aufmerksamkeit bzgl. der Gewalt an unseren Schulen), ruft dies alles nach ethischer Orientierung, nach einer konsensfähigen „Sozialcharta“ – eben nach den Zehn Geboten. So sei hier aus dem stetigen Reigen der Dekalog-Literatur ein Quartett vorgestellt, das, harmonisch zusammenstimmend, einen weiten Horizont der verschiedenen Zugangsweisen zum Phänomen Dekalog eröffnet: Als erstes ein anregendes Sachbuch, das die ursprüngliche und zugleich aktuelle Bedeutung der Gebote vorstellt; sodann ein psychagogisches Werk, das im Dekalog einen Leitfaden zur guten Lebensführung und Persönlichkeitsreifung des biblisch Glaubenden sieht; als drittes ein Vorlesebuch für Kinder; und schließlich ein Werkbuch mit unterrichtspraktischen Materialien für den Unterrichtsalltag.

Hofmeister und Bauerochse, beide Redakteure beim Kirchenfunk des Hessischen Rundfunks, haben in ihrem Buch das Ergebnis einer hr-Sendereihe zur gegenwartserschließenden und zukunftsweisenden Bedeutung des Dekalogs im Blick auf ethische Konflikte unserer Zeit publiziert. Um es gleich vorweg zu sagen: Dieses Experiment gelingt auf erhellende und erfrischende Art und Weise: Ob etwa auf dem Hintergrund des Bilderverbots nach dem Menschen- und Gottesbild der manipulativen Biotechnik oder nach dem Schicksal von „Designer-Babies“ und embryonalen „Ersatzteillagern“ gefragt wird, ob das Sabbatgebot im Kontext von verkaufsoffenen Shopping-Sonntagen und grenzenloser Globalisierung der Arbeit aktualisiert wird oder ob uns das Verhältnis von Eltern und Kindern im gegenwärtigen tiefgreifenden demoskopischen Wandel neu sehen gelehrt wird – stets wird der Leser auf eine neue Zusammenhänge eröffnende Entdeckungsreise zwischen biblischer Ursprungssituation und heutiger Konfliktlage mitgenommen: Das Diebstahlsverbot erhält vor der neuen globalen Wirtschaftsordnung eine kaum gekannte analytische Kraft, das Lügengebot zeigt die an bloßer Quote interessierte Medien- und Spaßgesellschaft als inszenierte Verzerrung der Wirklichkeit und das Begehrensverbot entlarvt die bloß gekauften Selbstbilder des Konsumzwangs als leere Charaktermasken.

Der viel gelesene geistliche Wegbegleiter Anselm Grün buchstabiert uns den Dekalog als spirituellen Leitfaden durch unsere „Wertewüste“ (S. 8) hin zu einem heilen Dasein („Wert/Value leitet sich vom lat. „valere“ ab, was „heil und gesund sein“ heißt !), in dem wir selbstbestimmt leben können, ohne bloß manipuliert gelebt zu werden . Der Rezensent begrüßt es außerordentlich, dass Grün im Gegensatz zu vielen geistlichen Beratern den Mut aufbringt zu sagen, dass nicht bloß der Weg schon das Ziel ist, sondern die biblischen Worte zu Recht „Bücher der Weisung“ zu gottgefälligem Leben genannt werden können. Vor diesem Hintergrund etwa erschließt er das erste Gebot als etwas, was den nur zu oft heimatlos gewordenen Menschen zur inneren Einheit führt, das uns vor Beliebigkeit und Zerrissenheit bewahrt. Der Dialog mit anderen Religionen ist sinnvoll, ja notwendig, aber gelingend nur auf der Grundlage einer eigenen sicheren Identität, da die völlige Vermischung aller religiösen Wege den eigenen Lebensbaum nie einwurzeln lässt (S. 35). Um die eigenen Fundamente geht es dem Seelenführer auch beim Elterngebot: Eltern waren und sind die Wurzeln, die uns – im Guten wie im Schlechten – tragen. Sie zu ehren heißt, meine Herkunft zu respektieren, sie soll ich – auch in ihrem eventuellen/punktuellen Versagen – achten, sonst werde ich eigenes Scheitern in meinem Leben nicht annehmen können (S. 81). In diesem Zusammenhang hat Grün auch den Mut, aktuelle unangenehme Fragen (an uns als Eltern und/oder Pädagogen) zu stellen: Werden heute vielen Kindern, oft mit gutem Vorsatz, nicht zu wenig Grenzen gesetzt, wird dadurch nicht vieles für Kinder strukturlos, fühlen sie sich nicht dadurch hilflos und allein gelassen mit ihren spontanen Launen? Mutig gegen den Zeitgeist ist Grün auch, wenn er im Rahmen des sechsten Gebots der oft als altmodisch apostrophierten Tugend der Treue das Wort redet, nach dem Schicksal von Scheidungswaisen (S. 108) fragt oder die sozialpsychologischen Hintergründe unserer „öffentlichen Schamlosigkeit“ (S. 110) ausleuchtet. In Grüns psychagogischer Perspektive heißt den Geboten folgen – biblisch gesprochen – „das Leben wählen“, lebenspraktisch heißt es erkennen, was „krank macht“ und „was gut tut“ (S. 170 f.)

Nach diesen gesellschaftspolitisch und seelentherapeutisch erhellenden Werken mag man schließlich getrost für die Arbeit im Vorschul- und Grundschulalter das Vorlesebuch von Schindler/Binder zur Hand nehmen, das in einer kindgerechten Sprache die Gebote jeweils vorstellt, erläutert, durch eine biblische Geschichte vertieft, zu Gespräch und Gebet anregt und dies alles mit beeindruckenden Schwarz-Weiß-Zeichnungen begleitet.

Für die Unterrichtspraxis der Sekundarstufe I kann man nachdrücklich auf die Loseblattsammlung mit Kopiervorlagen von Menn-Hilger verweisen, die in erfrischender Art und Weise mit ansprechenden Bild- und Textmaterialien (auch für Stationen-Lernen geeignet) die Alltagsaktualität des Dekalogs erschließen. Exemplarisch seien einige Zugangsweisen und Interpretationsansätze zu den Einzelgeboten aufgedeutet: Im Kontext des ersten Gebotes z.B. werden die Schüler durch Arbeitsblätter angeregt, sich mit Götzen und Idolen der Jugendkultur auseinanderzusetzen; das Gebot gegen den Namensmissbrauch problematisiert die heute alltagsübliche Werbung mit religiösen Versatzstücken („Werbung mit Gott“), würdigt die „Mea-Culpa-Vergebungsbitten“ der Kirche anlässlich des Heiligen Jahres 2000 (historisches Unrecht „im Namen Gottes“) und thematisiert Blasphemie/Gotteslästerung in unserer Medienlandschaft. Zum fünften Gebot werden die Schüler eingeladen, die Gefährlichkeit von „Ballerspielen“, wie sie in vielen Kinder- und Jugendzimmern unseres Landes tagtäglich ablaufen, zu bedenken, und bei unseren Jugendlichen häufig praktizierte Verhaltensweisen wie Schwarzfahren und Schwarzbrennen von Datenträgern werden im Kontext des Diebstahlverbots beleuchtet.

Die vier skizzierten Werke können jedem im Fach Religion Unterrichtenden Mut machen, mit solch systematisch durchdachtem und erfahrungsgesättigtem Lebens-Wissen an Jugendliche herantreten zu können: Damit lassen sich ethisch relevante Situationen biblisch erschließen, beurteilen und Anstöße zu gelingendem Leben geben.


Gustav Schmiz
Quelle: Informationen für Religionslehrerinnen und Religionslehrer Bistum Limburg 35 (2006), Heft 2, S. 88f.

In dieser Rezension sind auch besprochen:

Klaus Hofmeister /Lothar Bauerochse (Hg.)
Du sollst ... leben !
Die Zehn Gebote in den ethischen Konflikten der Gegenwart
Würzburg: Echter Verlag 2005
176 Seiten
ISBN 3-429-02709-8

Regine Schindler
Die Zehn Gebote
Wege zum Leben
Düsseldorf: Patmos-Verlag 2006
128 Seiten
ISBN 3-491-79750-0

Christoph Menn-Hilger
Die 10 Gebote heute
Infos, Materialien, Provokationen
Arbeitsmaterialien für die Sekundarstufe
Mühlheim/Ruhr: Verlag an der Ruhr 2003
82 Seiten
ISBN 3-86072-774-5

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