Reiner Jungnitsch: Gottes-Gerede

Buchvorstellung - 20.09.2021

Gibt es Gott? So lässt sich Reiner Jungnitsch befragen und gibt in einem langen Brief Antwort, was er darüber weiß und denkt.

Reiner Jungnitsch:

Gottes-Gerede
Erkundung als Rechenschaft

Norderstedt (books on Demand) 2021

172 Seiten

Paperback ISBN 978-3-75431-128-8
8,90 €

EBook ISBN 978-3-75347-496-0
6,99 €

 

Der Erkundungsgang

Das Buch ist als Brief an jemanden formuliert, der fragt, ob es Gott gibt. „Unser“ Erkundungsgang entfaltet sich als Spurensuche eines einzelnen, der sich um die Frage nicht drücken will und in einer Tour d’horizont seine Kenntnisse der Mythen, Naturwissenschaften, insbesondere der anthropologischen, der positiven und negativen Religionsphilosophie und des innerreligiösen Dialogs durchgeht, um abschließend Bilanz zu ziehen.

Vom Mythos zur Wissenschaft

Jungnitsch arbeitet heraus, dass große Wörter wie Leben, Freiheit, Schuld nicht mit Definitionen festzulegen sind, sondern die Außenwelt in einer symbolischen Sprache zum Bild der Innenwelt wird. Schöpfungsmythen aus aller Welt machen sich das zunutze, und ihre Faszination dauert in großen Blockbuster-Filmen fort bis in unsere Tage.

Ein nächster Schritt zur Beantwortung der Gottesfrage befasst sich mit dem Staunen. Das Buch bietet naturwissenschaftliche Daten zur Komplexität der menschlichen Verhaltenssteuerung, betont aber, dass die rein empirische durch eine philosophische Perspektive umgriffen wird, die den Menschen als das auf Transzendenz hin offene Wesen beschreibt und darin mit der Bibel übereinstimmt, wie eine Serie biblischer Zitate und ihre Analyse belegt. Es folgt ein Abriss der mit den Griechen beginnenden rationalen Erforschung der Kosmos bin hin zu Urknalltheorie und Quantenphysik. Die Welt wird als sich entwickelnde, niemals statische Einheit begriffen, und die Wissenschaften als unabgeschlossene, offene Projekte, deren technische Anwendungen – etwa Verbrennungsmotoren und Atomtechnik – neuartige ethische Fragen aufwerfen, die mit den Methoden der Empirie nicht beantwortet werden können. In dieser evolutionären Sicht macht ein Gott nicht die Dinge, sondern er macht, dass sich die Dinge machen, schließt Jungnitsch mit Christian Kummer.

Gottesbeweise und Religionskritik

Gottesbilder können in unserem Leben heilsam oder krankmachend wirken. Für Christen macht das Beispiel Jesu Christi eindeutig klar, dass Gott auf der Seite der Ausgegrenzten steht; aber das bedeutet nicht den Abschluss des Nachdenkens: Mit vielen Zitaten aus der Theologiegeschichte untermauert Jungnitsch den Katechismus-Satz: Gott ist keine fertige Antwort auf unsere Fragen. Deshalb sind alle „Gottesbeweise“, eingeschlossen die Pascalsche Wette auf seine Existenz, mit der Aufklärung obsolet geworden, vielleicht bleiben sie, wie Keith Ward vorschlägt, als Meditationsübungen reizvoll.

Unter der Überschrift „Denken als Putzmittel“ kommen vier berühmte Religionskritiker, Ludwig Feuerbach, Karl Marx, Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud, ausführlich mit bekannten Texten zu Wort. Fazit des Autors ist, dass die großen Religionskritiker den Finger in die Wunden eines unglaubwürdig gewordenen Christentums gelegt haben, die Theologie hat daraus aber inzwischen gelernt und ist zu einer kritischen Begleiterin des Glaubens geworden.

Interreligiöser Dialog

In Zehn Regeln fasst Jungnitsch die Grundvoraussetzungen eines Dialogs zwischen den Religionen und beruft sich auf das Zweite Vatikanische Konzil, um diesen Dialog zu rechtfertigen. Wie geht der Dialog aber mit den unvereinbaren Lehrsätzen der Religionen um, zum Beispiel mit der christlichen Trinität und Inkarnation? Hier erzählt der Autor von vier Blinden, die einen Elefanten an unterschiedlichen Stellen untersuchen und über die verschiedenen Definitionen seiner Wesensart in eine Rauferei geraten. Der Weg der Wahrheit hingegen erfordert gegenseitigen Respekt, Herz und Verstand.

Kritische Anmerkung

In seiner Schlussbilanz sagt der Autor: Die Frage, ob es Gott gibt, lässt sich ohne die Rückfrage, was denn diese Vokabel „Gott“ beinhalte, nicht klar mit ja oder nein beantworten. Letzten Endes sieht Reiner Jungnitsch für sich einen hinreichenden Grund, ein gläubiger Mensch zu bleiben.

Wer ist der Adressat dieses langen Briefes? Jungnitsch sagt dazu nichts. Wem hilft dieses Buch? Könnte man Texte daraus im Unterricht platzieren? -  Die ausführlichen Zitate aus der Bibel und der Religionskritik sicher, aber die Auswahl ist ziemlich konventionell. Die Analysen können hilfreich sein. Aber wie Jungnitsch z.B. mit Immanuel Kant umgeht, gefällt mir gar nicht: Die Dialektik der reinen Vernunft enthält eine Ableitung der Unmöglichkeit des ontologischen, kosmologischen und physikotheologischen Gottesbeweises. Das stimmt, aber verwundert nicht, denn die Anwendung der reinen Verstandesbegriffe auf die Wahrnehmung, um die es in der Kritik der reinen Vernunft geht, gewinnt Erkenntnisse über die naturnotwendigen Kausalbeziehungen in Raum und Zeit, also die Naturgesetze der klassischen Mechanik. Dazu gehört kein Begriff von Gott, kein Begriff von der Welt, der Materie, den Lebewesen, keine Idee der Freiheit und des Subjektes der Erkenntnis. In der Kritik der Urtheilskraft stellt Kant der mechanischen Kausalität eine Kausalität nach Begriffen gegenüber, die wir aus der Selbsterfahrung gewinnen: „Die Amsel frisst den Regenwurm.“ Das ist ein zuverlässig wahrer Satz, weil ich durch Selbstbeobachtung weiß, was „Fressen“ bedeutet, ohne einen Mechanismus zu kennen. Die Kritik der teleologischen Urteilskraft formuliert zuverlässig wahre Sätze über Zwecke, die Zweckeinheit der Welt, Kausalität aus Freiheit und die frei handelnde Ursache der Welt im ganzen. Leider hat die Rehabilitation des physikotheologischen Beweises durch Kant wenig Resonanz gefunden, weil Feuerbach und Marx natürlich vor allem stinksauer auf Gottfried Friedrich Wilhelm Hegel waren, der den aufgeklärten Protestantismus im Königreich Preußen zur vollkommenen Religion erklärt hatte, was für die Linke inakzeptabel war. Die Kontroverse zwischen den Rechts- und Linkshegelianern überlagerte im 19. Jahrhundert vieles andere, und danach trat der Empirismus seinen Siegeszug an, der zusammen mit Hegel auch Kant und den ganzen deutschen Idealismus in die Tonne trat.

Jungnitsch sagt, die Befassung mit Gott ist ein offener Prozess, und sein Mut, die eigene Position in diesem Prozess öffentlich zu machen, soll in dieser Rezension nicht dadurch klein geredet werden, dass ich meine, das eine oder andere Detail hätte man besser darstellen können. Zu unterstreichen ist das Bekenntnis des Buches zu Dialog und Rationalität, denn Fundamentalismus, Ausschließung, religiös motivierte Lüge und Gewalt beginnen da, wo man sich den Forderungen der Umwelt, die eigene Haltung zu begründen, nicht mehr stellt, sondern sich an gegenseitige Verstärkung und Feindseligkeit nach außen gewöhnt.

Folgen Sie rpp-katholisch.de via     Facebook     Twitter     Newsletter