Christian Blumenthal untersucht das Markusevangelium mit dem Ziel, dass die Verkündigung daran lernen kann, wie Christen Krisen bewältigen können.
Christian Blumenthal
Krisenmanagement bei Markus
Studien zur ambigen Grundstruktur seiner Theologie und zu seiner Konzeption von Raum
Stuttgarter Bibelstudien 255
Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk 2024
208 Seiten
38,00€
ISBN 978-3-460-03554-6
An anderer Stelle habe ich das Markusevangelium unlängst als „Evangelium für Erwachsene“ bezeichnet. Es beginnt weder mit einem Jesuskind noch werden die Leser vom Erzähler durch die Erzählung geführt, sondern es setzt nahezu unvermittelt ein. Der erwachsene Jesus ist kurz nach seiner Taufe mit einer traumatischen Erfahrung konfrontiert: Der Täufer wurde ausgeliefert (und hingerichtet). Die Situation am Anfang des Markusevangeliums gleicht in unheimlicher Weise der Frage, die dessen offenes Ende aufwirft: Ist mit dem Boten auch die Botschaft gestorben? Wie gehen die Jünger damit um, dass Jesus nicht mehr bei ihnen ist? Delegitimiert der Kreuzestod die Botschaft vom Gottesreich und von der Allmacht Gottes, wenn Jesus sich am Kreuz von Gott verlassen weiß? Doch: Fürchtet Euch nicht – „Markus kann Krise." (185) Das älteste Evangelium lässt sich ganz wunderbar als Krisenbewältigungserzählung lesen – auch für die krisengeplagten Christen von heute.
Wie das konkret aussehen kann, zeigt der Bonner Neutestamentler Christian Blumenthal im vorliegenden Band mit zwei neuen Werkzeugen der exegetischen Toolbox: ambiguitätstheoretischer Lektüre und Raumtheorie. Entsprechend diesem Arbeitsprogramm hat das Buch zwei Teile: Teil I (Kap. 1-4) befasst sich mit Krisenmanagement durch literarische Mehrdeutigkeiten, Teil II (Kap. 5-7) mit Krisenmanagement durch literarische Rauminszenierung und lebensweltliche Raumpragmatik. Der Schluss bündelt die wichtigsten Erkenntnisse in elf Punkten.
Die beiden Teile sind analog aufgebaut. Am Beginn steht jeweils eine Einführung in die Grundlagen des Zugangs und leuchtet dessen jeweiliges Potential aus, bevor es an die Textarbeit geht. Im ersten Teil betrachtet Blumenthal intendierte Mehrdeutigkeiten am Anfang und Ende des Mk, die Menschensohnaussagen sowie die stark asymmetrischen Abhängigkeiten in Mk 14,27-28 und wertet sie erzählpragmatisch aus. Er ist überzeugt, dass die ambige Darstellung Jesu ein ganz bewusst eingesetztes Mittel ist und nicht etwa auf disparaten Quellen beruht, denen ein überforderter Evangelist nicht Herr geworden wäre. Die Ambiguitäten haben „einen erheblichen Einfluss auf die erzählerische Grundlegung seines Gottes- und Jesusbildes und zeigen Jesus bereits in den ersten Versen als Figur dezidiert im Spannungsfeld zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen einer Einbindung in extreme asymmetrische Abhängigkeiten und einer ausgeprägten Selbstbestimmung" (39). Aus dieser Dynamik entstehen nicht nur ambige Jesusbilder, die die Markusgemeinde wie die Leser in der Diskussion niedriger und hoher Christologie zusammenbringen können (vgl. 59), sondern ein sehr differenzierter Macht- und Herrschaftsbegriff: „Markus kontrastiert nicht eindimensional irdische Macht und göttliche Ohnmacht oder irdische Macht und göttliche Übermacht. Stattdessen präsentiert er einen ungleich komplexeren Herrschaftsbegriff, welcher Ohnmacht und Macht in ihren jeweiligen äußersten Zuspitzungen gleichzeitig zu denken vermag." (55)
Aus diesem Verständnis heraus entwickelt Blumenthal originelle Ideen, die brandaktuell sind. So zeigt Mk 16,1-8 beispielsweise, „dass die Evangeliumsverkündigung allenfalls durch ein Nichtagieren der Menschen in der Jesusnachfolge gefährdet werden kann, nicht aber von Außenstehenden" (95). Insgesamt bringt das Mk seine Adressaten und Jesus durch eine „substanzielle Erfahrungsschnittmenge“ zusammen und „präsentiert Jesu Umgangsweise mit solchen Bedrängungserfahrungen als ein ‚autorisiertes‘ nachahmenswertes und gottgefälliges Handlungsmodell" (95) – auch heutige Christen in vielfältigen Krisensituationen sollten daran anknüpfen können.
Der zweite Teil mit seinen raumtheoretischen Überlegungen schließt komplementär an. Für die Argumentation ist es ein Glücksfall, dass Blumenthal mit dem Blick auf Anfang und Ende des Mk im 6. Kapitel noch einmal die gleichen Stellen betrachtet, denn durch die Relecture entfalten die bereits bekannten ambigen Stellen mit ihren Grenzüberschreitungen – horizontal wie vertikal – theologisches Potential jenseits einfacher Antworten und fordern die Adressaten gleich mit heraus. Die literarisch inszenierte Durchlässigkeit des Himmelsraumes zeigt: „Der erhöhte Herr befindet sich nicht in einem völlig abgeschotteten Jenseitsraum weit entfernt von der herausfordernden Realität der Menschen in seiner Nachfolge." (144) Dennoch schreitet er nicht einfach ein, wenn es brennt, sondern „ermöglicht das menschliche Handeln und begleitet es“ (151). Ziel ist es, nicht nur den „gemeindlichen Lebensraum durch Ausrichtung auf (...) [die] Jesuserzählung zum (Lebens-)Raum einer neuen Gemeinschaft mit distinkten Wertevorstellungen umzugestalten, und zwar vom Handlungsvorbild Jesu her" (150), sondern auch die Welt draußen, wie es Mk 13,10 vorgegeben ist.
Wie aktuell Markus als „Evangelium für Erwachsene" ist, wird im Kapitel zur Endzeitrede sichtbar: „Die Menschen in der Jesusnachfolge müssen das voranschreitende Chaos mit einer völligen kosmischen Destabilisierung nicht tatenlos erdulden, sondern können selbst aktiv werden, und zwar in der von Gott festgelegten universalen Evangeliumsverkündigung. Ergreifen sie die Initiative und verkünden das Evangelium, treiben sie das universale Raumgreifen der Jesusbotschaft effektiv voran und agieren so raumgestalterisch." (159) In Zeiten des Schwindens des Christlichen aus dem öffentlichen Raum und der Frage von Neuevangelisierung eine Überlegung mit Sprengkraft – weit über das Markusevangelium hinaus. Wie das konkret aussehen kann und welche Rolle Machtstreben und Ohnmacht(-serfahrung) dabei spielen, lässt sich sehr gut auf der Grundlage dieses Buches diskutieren.
Christian Blumenthal ist ein origineller und diskurseröffnender Entwurf gelungen, der weit über die neutestamentliche Exegese hinaus Wirkkraft entfallen könnte und es verdient, breit diskutiert zu werden. Als Primärtext dürfte er Lerngruppen in Schule und Kirche stark herausfordern. Hier braucht es gute Begleitung durch Lehrer und Hauptamtliche, dann wird „Krisenmanagement bei Markus“ zu einem Vademecum bei einer aktualisierenden Lektüre des „Evangeliums für Erwachsene“.
Sandra Huebenthal
Erstveröffentlichung in eulenfisch literatur